Klare Worte in Heidenau
Als erster Bundespolitiker hat sich Vizekanzler Sigmar Gabriel gestern ein Bild von der Lage in Heidenau gemacht. Die Krawalle in der sächsischen Stadt reihen sich ein in eine lange Liste von Angriffen auf Asylbewerberheime in diesem Jahr.
Wieder steht eine Menschenmenge vor dem ehemaligen Baumarkt in Heidenau, der vor Kurzem erst zur Unterkunft für Flüchtlinge umfunktioniert wurde. Am Montagvormittag handelt es sich allerdings nicht um gewalttätige Protestierer, die das Areal in den vorangegangenen Nächten bedrängten. Belagert wird die Zufahrt zum blauen Flachbau vielmehr von Journalisten. Sie warten auf Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD ), der bei einer Sommertour eigentlich Unternehmen in Dresden besuchen wollte, aber kurzerhand das Programm änderte und in die Flüchtlingsunterkunft gekommen ist. Der SPD-Vorsitzende ist der erste Bundespolitiker, der nach den Krawallen in die sächsische Stadt kommt.
Gabriel zeigt sich erschüttert von den gewaltsamen Protesten, bei denen es zu Angriffen auf Polizisten und zu Straßenblockaden kam. Die Randalierer seien "Leute, die mit dem anständigen Deutschland nichts zu tun haben", sagt er und spricht von "Pack", das "nur eine Antwort verdient: Polizei , Staatsanwaltschaft, Gefängnis". Allerdings dürfte der "Mob" nicht den Blick darauf versperren, dass es auch "Hunderttausende Hilfsbereite" im Land gebe.
Eine von ihnen steht zu diesem Zeitpunkt schon lange vor dem mit Planen verhängten Zaun, der um den Baumarkt errichtet ist. Sie sei gekommen, um zu helfen, sagt die ältere Frau aus Heidenau. "Das ist eine menschliche Entscheidung." Zu den Protesten geht sie auf Distanz: "Die Krawallmacher sollte man alle einsammeln und nach Afghanistan schicken, damit sie mal echte Probleme sehen." Neben ihr stehen freilich auch an diesem Vormittag Bürger, die nicht helfen, sondern ihren Unmut äußern wollen. "Man sollte kapieren, dass wir nicht die Mutter Teresa der gesamten Welt sind", sagt ein älterer Mann und wettert über eine "Staatsführung, die uns gegen die Wand fahren wird". Eine andere Frau äußert sich ratlos darüber, wie die Bundesrepublik 800 000 Asylbewerber allein im laufenden Jahr verkraften könne. Gabriel geht zielstrebig auf diese Menschen zu. Er habe ihnen gesagt, "dass wir das verkraften können", sagt die Frau später.
Die Einsatzleiter vom Roten Kreuz zeigen Gabriel die riesige Halle des ehemaligen Baumarktes. Die Luft ist mies, die wenigen Oberlichter an der Decke sind zugeklebt, alte Praktiker-Tafeln hängen an den Wänden. Notdürftig haben die Helfer mit Planen einzelne Räume abgetrennt. Derzeit sind 320 Flüchtlinge da, bis zu 700 könnten es nach Angaben des Heidenauer Bürgermeisters werden. THW-Mitarbeiter haben vier orangene Container aufgebaut - Dusche und WC.
Mehrere junge Männer umringen Gabriel. Sie sind aus dem Jemen, Irak, Syrien. Der Jemenit erzählt dem SPD-Chef, dass er ein Jahr für die Flucht über die Türkei gebraucht habe. Zwei Monate war er in Tschechien im Gefängnis. Knapp 30 Minuten ist Gabriel bei den Flüchtlingen. Dann sind die Kameras und Mikrofone dran. "Wer hierherkommt und hier Parolen brüllt, Brandsätze schmeißt, Steine schmeißt, im Internet dazu aufruft, Leute umzubringen oder körperlich zu verletzen, diejenigen haben nur eine einzige Antwort von jedem von uns verdient: Ihr gehört nicht zu uns, euch wollen wir nicht!"
In der Zwischenzeit hat sich in Berlin auch die Kanzlerin zu Wort gemeldet. "Es ist abstoßend, wie Rechtsextremisten und Neonazis versuchen, dumpfe Hassbotschaften zu verkünden", sagt Angela Merkel. Ob er und die Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage an einem Strang ziehen, wird Gabriel gefragt. Er lächelt vielsagend. Er sei natürlich für die ganze Bundesregierung nach Heidenau gekommen. "Was wir gar nicht brauchen, ist jetzt dauerhaften parteipolitischen Streit. Weder sollten Land, Bund und Kommunen gegenseitig auf sich zeigen, noch die demokratischen Parteien." Gabriels Generalsekretärin Yasmin Fahimi warf Merkel allerdings vor, nach den Heidenau-Nächten zu lange geschwiegen zu haben. Die im Umfragetief steckende SPD wittert wohl die Chance, die Union in der Asyl- und Flüchtlingspolitik vor sich hertreiben zu können.
Unvergessen ist Gabriels Parteitagscredo von 2009: "Wir müssen raus ins Leben, dahin, wo es laut ist, wo es brodelt, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt." In Heidenau ist er ziemlich nah dran. Auch wenn Bürgermeister Jürgen Opitz sich tapfer an der Ehrenrettung für sein 16 500-Einwohner-Städtchen versucht: "Wir sind kein Nazi-Nest."
Zum Thema:
HintergrundDeutschland und Frankreich haben eine einheitliche europäische Antwort auf die derzeitige Flüchtlingskrise gefordert. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU ) sagte gestern vor einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten François Hollande , es gebe zwar in weiten Teilen ein gemeinsames Asylrecht in Europa, dieses werde aber "zurzeit nicht umgesetzt". Nötig seien "gemeinsame Standards" für die Registrierung und Unterbringung sowie die Rückführung von Flüchtlingen sowie für eine "faire Lastenverteilung". Auch Hollande forderte ein "einheitliches System". Vor der griechischen Insel Lesbos sind gestern beim Untergang eines Flüchtlingsboots mindestens zwei Menschen ertrunken. Mehrere Menschen wurden noch vermisst. Acht Insassen des Bootes konnten gerettet werden. Zwei Männer haben in Berlin eine Frau und ihre beiden Kinder mit fremdenfeindlichen Sprüchen angepöbelt und anschließend auf die Kinder uriniert. Wie die Bundespolizei mitteilte, wurden die 32 und 37 Jahre alten Tatverdächtigen vorübergehend festgenommen. afp