Kein Tag mehr ohne Ali

Saarbrücken. Ali-Florian flitzt aus dem Garten und läuft die Treppe hinauf in sein Zimmer. Flink zieht der Zwölfjährige T-Shirt und Hose aus, schlüpft in seinen weißen Karate-Anzug. Gürtel umbinden, Schuhe anziehen - fertig. Es ist Montagnachmittag auf dem Saarbrücker Eschberg, und Ali-Florian beeilt sich

 Handkantenschlag: Montags hat Ali-Florian Training - seit kurzem hat der kleine Karateka den gelb-weißen Gürtel. Fotos: Oliver Dietze

Handkantenschlag: Montags hat Ali-Florian Training - seit kurzem hat der kleine Karateka den gelb-weißen Gürtel. Fotos: Oliver Dietze

Saarbrücken. Ali-Florian flitzt aus dem Garten und läuft die Treppe hinauf in sein Zimmer. Flink zieht der Zwölfjährige T-Shirt und Hose aus, schlüpft in seinen weißen Karate-Anzug. Gürtel umbinden, Schuhe anziehen - fertig. Es ist Montagnachmittag auf dem Saarbrücker Eschberg, und Ali-Florian beeilt sich. Um 18 Uhr beginnt sein Karate-Training, das will der dunkelhaarige Junge keinesfalls verpassen. Im Sauseschritt eilt er wieder auf die Terrasse des Einfamilienhauses. Küsschen für Mama und Schwester Jasmin, "Tschüs", und schon ist der kleine Wirbelwind auf dem Weg zur Haustür. Ins Training geht er alleine, den Weg kennt er. Lächelnd schaut die Mutter ihrem Sohn hinterher. Wenn ihr vor zwölf Jahren jemand gesagt hätte, dass er sich einmal so gut entwickeln würde - sie hätte ihm nicht geglaubt.Damals, als sie ihr Baby nach der Geburt zum ersten Mal in den Armen hielt, ahnte sie, dass es behindert sein würde. Ganz still lag der Kleine da - kein Strampeln, kein Schreien, die mandelförmigen Augen geschlossen und die Zunge ein Stückchen weit aus dem Mund hervorstehend. Schließlich bestätigte die Hebamme den Verdacht: Das Kind hat das Down-Syndrom. Für Elke Sheikh Farshi und ihren Mann Abbas war das wie ein Schlag in den Unterleib. "Obwohl wir uns vorher mit dem Thema beschäftigt hatten", sagt die gebürtige Schwarzwälderin. Auf 800 Geburten kommt laut Statistik ein Kind mit Down-Syndrom. In Deutschland werden demnach jährlich 1000 Kinder geboren (im Saarland zehn), deren Körperzellen 47 Chromosome aufweisen. Normalerweise hat eine menschliche Körperzelle 46. Bei Menschen wie Ali-Florian ist das Chromosom Nummer 21 jedoch dreifach vorhanden.

Für Professor Wolfram Henn, Leiter des Instituts für Humangenetik an der Uni-Klinik Homburg, sind "gesunde Kinder ein Glück", keine Selbstverständlichkeit. "Im Prinzip kann jede Familie von Trisomie 21 betroffen sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit Down-Syndrom geboren wird, steigt jedoch mit zunehmendem Alter der Mutter." Ursächlich dafür sei, dass die Eizellen der Frauen bereits in der Jugend gebildet werden - mit zunehmendem Alter nimmt deren Qualität einfach ab. "Das heißt aber nicht, dass nur ältere Frauen betroffen sind. Auch junge Paare können ein Kind mit Down-Syndrom bekommen", erklärt Henn. 36 Jahre war die Mutter von Ali-Florian alt, als sie und ihr Mann, ein gebürtiger Iraner, sich entschlossen, noch ein zweites Kind zu bekommen. "Es war wegen meines Alters eine Risikoschwangerschaft." Das wusste sie, "doch wir wollten keine Fruchtwasseruntersuchung, sondern es so nehmen, wie es kommt". Sie hofften, dass alles gutgehen würde - vergebens.

Jutta Berndt ist Vorsitzende des Vereins saar21, der sich für die Interessen von Menschen mit Down-Syndrom und deren Angehörige einsetzt. Der Selbsthilfe-Verein hat 51 Mitglieder, darunter auch die Familie Sheik Farshi. Berndt sagt: "Mit der richtigen Förderung ist fast alles möglich. Die Kinder können in Kindergärten gehen, Grundschulen und teilweise weiterführende Schulen besuchen und später einen Beruf ergreifen, der ihnen Spaß macht." Vergangenen Sommer wechselte Ali-Florian von der Grundschule am Eschberg in die fünfte Klasse der ERS Bruchwiese. "Ali hat das Glück, dass er so gut wie keine weiteren körperlichen Gebrechen hat, was bei Kindern mit Down-Syndrom ja leider oft der Fall ist", sagt Berndt. "Und ganz entscheidend ist, dass er eine liebevolle Familie hat und ein Lebensumfeld, in dem sich alle bemühen und ihn nach Kräften fördern." Das schließt gute Integrationslehrer und -helfer mit ein. Seine Integrationslehrerin an der ERS Bruchwiese heißt Kati Steinecke.

"Nein, du", sagt Ali-Florian, und sein Zeigefinger weist auf Steinecke. Den Kopf hält er leicht schief und lächelt frech, während es schelmisch in seinen braunen Augen blitzt. Keine Lust auf Abwasch, gibt er seiner Lehrerin zu verstehen. Schließlich hat er schon gekocht - Nudeln mit Tomatensoße. Gemeinsam mit zwei Schülerinnen und Integrationshelferin Jolanta Sabura hat Ali-Florian in der Schulküche "gezaubert". Während der meisten Schulstunden ist Ali-Florian im Klassenverband. Haben seine Mitschüler Mathematik oder Deutsch, bekommt er separaten Unterricht. Kati Steinecke, die an der ERS Bruchwiese insgesamt 16 Integrationskinder betreut - Ali-Florian als einziges behindertes Kind, die anderen sind lernbehindert - weiß, wie sie ihren Schützling zu nehmen hat: mit Herzlichkeit. Auch Konsequenz ist wichtig, denn der Deutsch-Iraner mit dem ausgewachsenen Façon-Haarschnitt braucht klare Regeln und Strukturen, an denen er sich orientieren kann. Also doch Abwasch. Ali-Florian schnauft mit gespielter Verärgerung. Zuvor hatte er schon beim Schreiben des Einkaufszettels und beim Einkaufen geholfen. "Es ist wichtig für sein späteres Leben, dass er das lernt", erklärt Integrationshelferin Sabura. Im kommenden Jahr soll Ali-Florian im Schul-Bistro mithelfen, wird Obst und Gemüse schneiden, Brötchen belegen und auch verkaufen. "Das schafft er", ist Sabura sicher. Ihr Schützling offenbar auch. Zumindest nickt er und grinst übers ganze Gesicht. "Er hat den Schalk im Nacken", verrät Steinecke. "Und eine große Portion Selbstbewusstsein", ergänzt Sabura. Das Lieblingsfach von Ali-Florian ist Sport. "Bio und Musik auch", erklärt dieser bei einem Besuch in seiner Schule, wo er vor Strafen nicht gefeit ist. "Weil er eine Pause mit Fußballspielen überzogen hatte", erzählt seine Integrationshelferin und muss lachen, "bekam er eine Strafarbeit. Darauf war er stolz". Diese habe ihm das Gefühl gegeben, dazuzugehören, nicht anders zu sein, als seine Mitschüler. Das Sprechen fällt dem Jungen, dessen zarter Flaum auf der Oberlippe verrät, dass er bald zum Teenager wird, immer noch nicht leicht. Das hat mit einer Muskelhypotonie, einem Mangel an Muskelkraft, im Mundbereich zu tun. "Darum hatte er in den ersten sechs Monaten auch Schwierigkeiten beim Stillen. Er konnte nicht richtig saugen", erzählt seine Mutter.

Viele logopädischen Sitzungen, Krankengymnastik- und Ergotherapie-Stunden später spielt Ali-Florian nicht nur Federball, sondern auch Basketball, Fußball und Tischtennis. Und er liebt Karate. Seit fünf Jahren trainiert er unweit seines Elternhauses in der Turnhalle der Grundschule am Eschberg in der Karate-Abteilung von Saar 05. "Jasmin hatte ihn damals dorthin mitgenommen", sagt seine Mutter. Das Verhältnis zwischen Karate-Vorbild Jasmin und Ali-Florian, der viel Nestwärme braucht, ist innig. "Sie ist seine Nummer eins in der Familie", verrät Elke Sheikh Farshi lächelnd, "dann erst komme ich".

Jasmin mag es ihrerseits gar nicht, von ihrem Bruder getrennt zu sein: "Wenn meine Freundinnen auf der Klassenfahrt sagen, dass sie froh sind, endlich Ruhe vor ihren Geschwistern zu haben, ist das bei mir nicht so. Ich vermisse Ali nach einem Tag." "Am liebsten mag ich Sport, Bio und Musik."

 Der Zwölfjährige braucht auch Zeit für sich - das Kinderzimmer ist sein Rückzugsgebiet.

Der Zwölfjährige braucht auch Zeit für sich - das Kinderzimmer ist sein Rückzugsgebiet.

Ali-Florian Sheikh Farshi

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Der Wald gedeiht 2011 ist das Internationale Jahr der Wälder. Das ist Anlass für die SZ, in einer Serie den heimatlichen Wald vorzustellen. Texte und Fotos stammen von Konrad Funk aus Nohfelden. Er ist Förster und Naturfotograf. Im dritten Teil geht es um