Der Brexit liegt auf Eis – Warten auf eine Antwort aus Brüssel Wer zuletzt lacht, ist noch offen

London · Boris Johnson hat die Brexit-Gesetze vorerst auf Eis gelegt. Beobachter rechnen mit Neuwahlen, doch Labour-Chef Corbyn sträubt sich.

  Boris Johnson freut sich zu früh: Der Brexit ist noch längst nicht durch. Aber auch Oppositionsführer Johnson hat nichts zu lachen. Die Briten kritisieren seinen Schlingerkurs beim Brexit.

Boris Johnson freut sich zu früh: Der Brexit ist noch längst nicht durch. Aber auch Oppositionsführer Johnson hat nichts zu lachen. Die Briten kritisieren seinen Schlingerkurs beim Brexit.

Foto: Fotos: istock, afp, picture alliance; Montage: Lorenz

Boris Johnson präsentierte sich mit gewohntem Selbstbewusstsein als großer Gewinner. „Es hieß, wir würden niemals den Brexit durch das Parlament bringen“, rief der britische Premierminister gestern den Abgeordneten zu und verwies auf den Sieg der Regierung am Abend zuvor. Die Opposition protestierte lautstark. „Habt ihr nicht“, schmetterten einige Parlamentarier der Labour-Partei Johnson entgegen.

Tatsächlich hat am Dienstagabend zwar eine Mehrheit den Gesetzentwurf für das Brexit-Abkommen gebilligt. Doch der Deal ist weder durch,  noch ist der Brexit sicher. Im Gegenteil. Auch die Freude des Premiers hielt am Dienstagabend nur wenige Minuten. Kurz nach der Abstimmung über den Gesetzesrahmen, der im Sinne Johnsons eine Mehrheit erhalten hatte, kippte das Unterhaus den engen Zeitplan. Einige Labour-Abgeordnete und ehemalige, aus der Partei verbannte Konservative hatten lediglich für die sogenannte „Withdrawal Agreement Bill“ votiert, um zu einem späteren Zeitpunkt die Möglichkeit zu haben, das Gesetzespaket noch mit Hilfe von Zusatzanträgen zu verändern. Aus Misstrauen gegenüber Downing Street forderten die Parlamentarier mehr Zeit, um die Details des Dokuments genauer untersuchen zu können.

Und Johnson? Er legte im Anschluss das Ratifizierungsverfahren erst einmal auf Eis, um auf die Antwort auf Brüssel zu warten, wo gestern EU-Ratspräsident Donald Tusk mit der EU27 über jene Fristverlängerung beriet, um die London am Wochenende offiziell gebeten hatte. Was also passiert jetzt? Den „Komme, was wolle“-Termin am 31. Oktober muss der europaskeptische Hardliner Johnson nach dem Parlaments-Showdown aufgeben. Vielmehr rechnen Beobachter auf der Insel mit baldigen Neuwahlen noch vor Weihnachten, wie sie der Premier seit Wochen wünscht. Doch bislang sträubt sich die Labour-Partei, auf deren Stimmen die Regierung bei Neuwahlen angewiesen ist. Die Frage ist, wie lange noch. Oppositionschef Jeremy Corbyn steckt in einem Dilemma. Einerseits verlangte er monatelang eine Neuwahl, um dann den Tories eine Absage zu erteilen mit dem Verweis, man würde einem Urnengang erst dann zustimmen, wenn ein ungeordneter Brexit ohne Deal ausgeschlossen ist. Gewährt Brüssel in den nächsten Stunden oder Tagen einen Aufschub, etwa auf den 31. Januar 2020, hat Corbyn keine Entschuldigung mehr. Es dürfte zwangsläufig zu einem Votum im Parlament kommen.

Andererseits aber versprechen die Umfragen nichts Gutes für Labour, insbesondere für den Parteivorsitzenden. Zu viele Briten kritisieren den Schlingerkurs in der Brexit-Frage. Die Sozialdemokraten wollen im Fall eines Wahlsiegs ein neues Abkommen mit der EU aushandeln, das deutlich weniger hart ausfallen soll als der von Johnson vereinbarte Deal. Dann wäre das Volk bei einem zweiten Referendum erneut aufgerufen – mit dem EU-Verbleib als Alternative zum Abkommen. „Der Brexit ist im Fegefeuer“, titelte die konservative Zeitung „Telegraph“ gestern enttäuscht über die erneute Verschiebung der Scheidung. Eine Bewertung des Unterhaussprechers John Bercow darf man zudem im doppelten Wortsinn verstehen. Das Ratifizierungsverfahren für das Gesetz befinde sich „in limbo“, also „in der Schwebe“, wörtlich aber heißt es „in der Vorhölle“.

Auf die verwies gestern auch der Regierungschef von Wales, Mark Drakeford. Denn zu seinem Bedauern ist das Gesetz „nicht tot“. Der proeuropäische Vorsitzende der walisischen Labour-Partei und die Erste Ministerin von Schottland, Nicola Sturgeon, luden am gestrigen Morgen zu einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz unweit des Westminster-Palasts. Dort warben sie für ein erneutes Referendum. Die Chefin der Scottish National Party (SNP), für die nach einem Brexit der einzige Weg zurück in die EU über die Unabhängigkeit führt, schimpfte über die Nachteile des zwischen Brüssel und London ausgehandelten Deals und den Schaden, den ein solch harter Bruch anrichten würde. „Dass Schottland für den Verbleib gestimmt hat, wird als irrelevant behandelt“, so Sturgeon. Der nördliche Landesteil würde wieder einmal von London ignoriert werden. Deshalb unterstützt die SNP baldige Neuwahlen und ein erneutes Referendum.

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