Jean-Claude Juncker blickt auf das Jahr 2015 „Deutschland hat adäquat und solidarisch reagiert“

Brüssel · Jean-Claude Juncker, Präsident der EU-Kommission zur Zeit der Flüchtlingskrise, über das deutsche Vorbild, die Schwierigkeiten Europas und Fotos, die ihn nicht loslassen.

Jean-Claude Juncker

Jean-Claude Juncker

Foto: dpa/Francisco Seco

Als die Flüchtlinge vor fünf Jahren in großer Zahl nach Europa und Deutschland kamen, stand Jean-Claude Juncker an der Spitze der EU-Kommission. Im Rückblick würdigt er die Leistung von Bundeskanzlerin Angela Merkel und spricht über Fehler der EU:

Herr Juncker, was ging in Ihnen vor, als Sie erkannten: Diese Menschen drängen nach Europa?

JUNCKER Mir war schnell klar, dass da ein großes Problem auf die Europäische Union zurollt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ich haben sehr bald erkannt, dass die große Zahl der Hilfesuchenden, die erst nach Ungarn und dann nach Österreich kamen, Hilfe brauchten. Und dass wir die Situation nur dadurch würden entspannen können, dass wir die Flüchtlinge nach Deutschland durchlassen. Frau Merkel hat mir gesagt, dass sie die Grenzen nicht schließen werde. Das ist ein wichtiger Satz, denn später wurde oft behauptet, die Bundeskanzlerin habe die Grenzen geöffnet. Das war gar nicht nötig, denn sie waren ja offen. Sie hat die Grenzen nur nicht geschlossen, was ich auch im Rückblick als die einzig richtige Entscheidung bezeichnen kann.

„Wir schaffen das“, sagte die Bundeskanzlerin damals. Hat Europa es geschafft?

JUNCKER Dieser Satz von Frau Merkel ist oft falsch verstanden worden. Sie hat ja nicht gesagt, dass wir jetzt das ganze Leid der Welt in Europa oder und Deutschland aufnehmen und heilen können. Es ging immer um Hilfe für diese Menschen. Deutschland hat auf den Ansturm adäquat und solidarisch reagiert. In der Geschichte wird bleiben, dass Frau Merkel sich mit vielen anderen zusammen bemüht hat, Hilfe zu geben, die der Not der Menschen entsprochen hat. Ich fand das damals sehr mutig und couragiert.

Es gab auch in der Bevölkerung eine Willkommenskultur.

JUNCKER Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn die Bürger der Bundesrepublik haben die Flüchtlinge aufgenommen, weil sie erkannt haben, dass es Menschen in Not waren. Diese Solidarität war beeindruckend. Insofern hat Deutschland diese Krise beeindruckend bewältigt. Von der Europäischen Union kann man das nicht sagen.

Ihre Kommission hat damals bereits eine faire Verteilung, also eine Quotenregelung, vorgeschlagen. Es gibt sie bis heute nicht.

JUNCKER Ich hatte wirklich geglaubt, dass diese Kultur des Umarmens und Aufnehmens in allen Ländern vorhanden sei. Und es hat mich sehr enttäuscht, dass das nicht der Fall war. Griechenland und Italien wurden mit dem Problem alleingelassen, das bei ihnen „angeschwemmt“ wurde, wenn ich das so ausdrücken darf. Ich habe am Anfang noch wirklich gedacht, dass sich alle Staaten mit offenen Armen diesen Flüchtlingen zuwenden würden. Das ist leider nicht passiert.

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