Breite Mehrheit im Europa-Parlament Wird Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft entzogen?

Brüssel · In Brüssel braut sich gehöriger Ärger über die dauernden Angriffe und Verleumdungen des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán gegen die EU zusammen. Nun will das Europa-Parlament den EU-Rat dazu bringen, dass er im nächsten Jahr Ungarn die anstehende Ratspräsidentschaft vorenthält.

 Viktor Orbán am Rande eines EU-Gipfels 2020 in Brüssel.

Viktor Orbán am Rande eines EU-Gipfels 2020 in Brüssel.

Foto: dpa/John Thys

Der liberale Haushälter Moritz Körner hat ein besonderes Bild vor Augen, wenn er daran denkt, dass ausgerechnet Ungarn, das zuletzt fast allen wichtigen Einigungen der EU im Weg stand, im nächsten Jahr genau diese Einigungen als EU-Ratspräsidentschaft verantworten soll: „Das wäre so, als würde man den Schulhofschläger zum Schuldirektor machen,“ sagt Körner. Mit dieser Meinung steht der FDP-Europa-Abgeordnete nicht allein. An diesem Donnerstag will das EU-Parlament die EU-Staaten auffordern, Ungarn aus der Abfolge der jeweils sechsmonatigen Ratspräsidentschaften herauszunehmen. Hinter dieser Resolution stehen Christdemokraten, Sozialdemokraten, Grüne, Liberale, Linke und auch etliche Rechtspopulisten. Eine überwältigende Mehrheit wird damit deutlich machen, wie sehr Ungarns Regierungschef Viktor Orbán die Geduld der EU überstrapaziert hat.

Der SPD-Abgeordnete René Repasi hat sogar bereits einen gesichtswahrendes Vorgehen gefunden. Da Spanien ja nun bereits im Juli wähle und es bekanntlich nicht sinnvoll sei, mitten in den Höhepunkt des Wahlkampfes mit möglichem Regierungswechsel die Geschicke der EU in die Hand zu nehmen, könne ja die ab Juli anstehende spanische Ratspräsidentschaft überdacht werden und damit den Anlass liefern, die festgelegte Reihenfolge von Schweden (derzeit), Spanien (ab Juli 2023), Belgien (ab Januar 2024), Ungarn (ab Juli 2024) und Polen (ab Januar 2025) grundsätzlich aufzuschnüren. Belgien sei mit den Vorbereitungen zum Beispiel schon weit gediehen und könne für Spanien übernehmen.

Ob dann Ungarn in der Reihenfolge weit nach hinten rutschen könnte, um den Land Gelegenheit zu geben, erst einmal wieder Anschluss an die demokratischen und rechtsstaatlichen Standards der EU anzuknüpfen, haben allerdings weder das EU-Parlament noch die EU-Kommission zu entscheiden. Das ist allein Sache des Rates, also der Regierungsvertreter aus den 27 Mitgliedstaaten. Wie stellt sich dazu die Ampelkoalition in Deutschland auf?

„Ob Ungarn dazu in der Lage ist, die Rolle des EU-Ratsvorsitzenden angemessen auszufüllen und die Mitgliedstaaten auch in schwierigen Fragen zu einen und zusammenzubringen, wage ich zu bezweifeln“, sagt der Vorsitzende des Bundestags-Europa-Ausschusses, Anton Hofreiter (Grüne). Das Gebaren Ungarns hinsichtlich der Ukraine stehe im krassen Gegensatz zur EU-weiten Solidarität - etwa im Hinblick auf das Hintertreiben von Sanktionen oder den Abschluss neuer Gaslieferverträge mit Russland. „Ungarn steht in der EU zunehmend alleine da“, unterstreicht Hofreiter.

„Herr Orbán stellt immer wieder unter Beweis, dass Europas Werte der liberalen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit nicht mehr für ihn gelten“, stellt auch Bijan Djir-Sarai, der FDP-Generalsekretär und erfahrene Außenexperte fest. Selbst zu einer klaren Verurteilung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine könne er sich nicht durchringen. „Aus diesen Gründen ist es zweifelhaft, ob Ungarn den Anforderungen und Erwartungen, die mit der Ratspräsidentschaft verbunden sind, gerecht werden könnte“, gibt der Liberale zu bedenken.

„Mir fehlt bislang auch die Phantasie mir vorzustellen, wie eine derart polarisierende, die EU immer wieder diskreditierende Regierung Ungarns die EU zusammenführen und moderieren kann“, stellt der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages, der vormalige Außen-Staatsminister Michael Roth (SPD) fest. Er wisse aus eigener Erfahrung, dass man sich als Vorsitz im Rat der EU um Konsens und Mehrheiten bemühen müsse. Das sei nicht leicht. „Ich finde die Kritik an der bisherigen Europapolitik der ungarischen Regierung und deren eklatante Verstöße gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit gerechtfertigt und teile sie“, unterstreicht Roth. Er hält es jedoch für „wenig zielführend“, das Prinzip der rotierenden Ratspräsidentschaft aufzukündigen. Erfolgversprechender sei es, als Parlament, Kommission und Mitgliedstaaten dem künftigen Ratspräsidenten „unmissverständlich zu sagen, was man von ihm erwartet und wo die Grenzen liegen.“ Eine Ratspräsidentschaft sei schließlich keine Diktatur auf Zeit, die Möglichkeiten auch sehr beschränkt, wenn die anderen Institutionen und Partner nicht mitzögen.

Auch Monika Hohlmeier, die Vorsitzende des Haushaltskontrollausschusses des EU-Parlamentes, steht hinter der Forderung, Ungarn im nächsten Jahr von der Ratspräsidentschaft fern zu halten. „Nichts hat sich verändert“, stellt die CSU-Europa-Abgeordnete nach einer Recherchereise ihres Ausschusses nach Ungarn fest. „Bei wesentlichen Dingen konnten unsere Fragen nicht beantwortet werden“, berichtet sie. Der ungarische Haushalt sei 95 Mal geändert worden, ohne das Parlament zu beteiligen. Der ungarische Rechnungshof sei „nicht auskunftsfähig“ gewesen. Selbst Gerichtsurteile würden nicht umgesetzt, sondern über Nacht durch Dekrete ausgesetzt. Das Ergebnis sei die am Donnerstag zur Abstimmung stehende Resolution mit der Botschaft, dass Ungarn sich fundamental neu aufstellen müsse.

Mit auf Tour war der Grünen-Europa-Abgeordnete Daniel Freund. Er hat EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn gefragt, wie viele der 27 „Super-Meilensteine“, die die Kommission mit Ungarn ausgehandelt hatte, um die eingefrorenen Gelder frei zu geben, inzwischen umgesetzt habe. Antwort: Nicht einen einzigen. Ungarn versuche derzeit, Indikatoren zu liefern, die den Eindruck erwecken sollten, es würde sich etwas tun. Tatsächlich geschehe jedoch nichts. Freund: „Wir wollen, dass die EU-Gelder bei den Ungarinnen und Ungarn ankommen, aber nicht, dass sie nur bei Orbán und seinem Freundeskreis landen.“

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