"Wir wollen nicht wie Datenzombies herumlaufen"

Berlin · Grünen-Fraktionschefin Künast fordert nach neuen Enthüllungen nun klare Kante gegenüber den USA Stück für Stück weitet sich die Spähaffäre aus. Am Wochenende gab der Bundesnachrichtendienst zu, große Mengen von Kommunikationsdaten deutscher Staatsangehöriger an die amerikanische NSA weitergeleitet zu haben. Die Politik ist empört. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast (58) fordert jetzt Aufklärung im Bundestag und eine harte Linie gegenüber den USA, wie sie unserem Korrespondenten Werner Kolhoff sagte.

Hat der Bundesnachrichtendienst das Parlament hinter die Fichte geführt?
Renate Künast: Ja, ganz offensichtlich. Bisher war nur von einer eng begrenzten Zusammenarbeit die Rede. Kanzleramtsminister Ronald Pofalla und Angela Merkel decken hier einen der größten Datenschutzskandale. Deshalb ist unsere erste Forderung, dass jetzt endlich alles auf den Tisch kommt.

Sehen Sie eine neue Qualität durch die Enthüllungen über XKeyscore?
Renate Künast: Früher wurden nur einzelne Verdächtige ins Visier genommen, heute kann man mit XKeyscore in Echtzeit den kompletten Datenverkehr durchsuchen. Wir wollen wissen, was der Verfassungsschutz, der dieses Instrument angeblich nur testet, damit eigentlich macht.

Die enge Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und deutschen Diensten geht auf die Zeit nach den Terroranschlägen in New York zurück. Haben Sie als Regierungsmitglied damals davon gewusst?
Renate Künast: Dass es Zusammenarbeit gab, ist klar. Aber es macht einen erheblichen Unterschied, ob es um konkrete Verdächtige geht, wie etwa Mohammed Atta, der ja vor den Anschlägen in Hamburg gelebt hatte, oder ob man wie jetzt offenbar alle Bürger zu Verdächtigen macht.

Auch zu Ihrer Regierungszeit gab es seitens der US-Geheimdienste immer wieder Hinweise auf Terrorverdächtige in Deutschland. Musste man da nicht ahnen, dass die USA in großem Umfang Datenverkehr ausspähen?
Renate Künast: Dass die Amerikaner ihre Geheimdienste stark ausgebaut hatten, wussten wir. Aber wir wussten nichts von einer Technik, mit der man über 500 Server weltweit und nahezu alles durchforschen kann. Das ist etwas qualitativ komplett Neues. Die Bundesregierung hätte, als sie davon erfuhr, in den parlamentarischen Kontrollgremien über diese Veränderung informieren müssen. Dann hätte man rechtzeitig über ein neues Regelwerk nachdenken müssen. Dass man irgendwo Glasfaserkabel mit solchen Spähprogrammen anzapfen und alles überwachen kann, ist in unseren bisherigen Datenschutzregeln nicht vorgesehen.

Wenn Sie nach dem 22. September regieren sollten: Wie wollen Sie das Thema mit den Amerikanern regeln? Oder wollen Sie die geheimdienstliche Zusammenarbeit beenden?
Renate Künast: Nein, es geht darum, die Herrschaft des Rechts auch bei der Terrorfahndung wiederherzustellen. Was wir brauchen ist eine weltweite Magna Charta des Datenschutzes, an die sich alle Staaten halten. Aber die kommt nur, wenn wir jetzt selbstbewusst handeln. So muss der Datenschutz zu einer Bedingung im europäisch-amerikanischen Freihandelsabkommen werden. Dafür brauchen wir einen Kanzler, der nicht wie Angela Merkel demütig hinter den USA herläuft, sondern klare Kante zeigt. Dazu gehört auch, dass Deutschland Edward Snowden in das Zeugenschutzprogramm aufnimmt und ihm so eine sichere Zuflucht gewährt.

Gerade profitiert die ganze Welt wieder von einer amerikanischen Terrorwarnung. Auch die deutsche Botschaft in Jemen ist geschlossen. Ist da eine solche Haltung nicht etwas bigott?
Renate Künast: Es gibt kein Supergrundrecht auf Sicherheit. Sondern es gibt als Wichtigstes die Würde und Freiheit der Menschen. Die Tatsache, dass wir im Einzelfall die Hinweise der Amerikaner nutzen, legitimiert doch nicht, dass wir unsere Freiheit aufgeben und alle wie Datenzombies herumlaufen.

Bei den Bürgern scheint diese Angst noch nicht so groß zu sein. Das Thema zündet nicht.
Renate Künast: Das Thema ist kompliziert und nicht richtig fassbar. Aber sobald man den Bürgern klar macht, was es bedeutet, dass ihre Privatheit gefährdet ist, wächst das Bewusstsein. Außerdem ist es ganz unabhängig davon, ob gerade Wahlkampf stattfindet, die Aufgabe der Politik, auf solche Gefahren hinzuweisen. Wenn wir alle Verdächtige sind und andere alle Daten über uns haben, dann wäre das schlimmer als bei Orwell.

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