SPD kann bei Wahlsieg Bundestagspräsidenten stellen „Isch over“ für Wolfgang Schäuble?

Analyse | Berlin · Niemand hat so viel Erfahrung wie Wolfgang Schäuble, der seit 1972 dem Parlament angehört. Dennoch könnte der CDU-Mann nach der Wahl als Bundestagspräsident verdrängt werden. Wen würde die SPD für das zweitwichtigste Amt im Staat nominieren?

Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble ist seit 2017 Bundestagspräsident.

Der CDU-Politiker Wolfgang Schäuble ist seit 2017 Bundestagspräsident.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Als Wolfgang Schäuble Ende 1972 in den Bundestag einzog, stand Chuck Berry in den britischen Charts auf Platz eins. Bayern München war mal wieder Herbstmeister, der Liter Super kostete umgerechnet 35 Cent. Seitdem ist in der Republik viel passiert. Schäuble ist immer noch da. Keiner ist so lange Abgeordneter wie er. Seit 2017 ist der Ex-CDU-Chef, Ex-Innenminister, Ex-Finanzminister respektierter Bundestagspräsident. Und der 79-jährige Badener will es bleiben. Seinen Offenburger Wahlkreis, den er 13 Mal infolge direkt gewann, wird er am Sonntag mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit verteidigen, sagt das Analyseportal election.de voraus. Nur: Der Präsidentenposten liegt nicht allein in seiner Macht.

Damit Schäuble im Amt bleiben kann, muss die CDU/CSU-Fraktion stärkste Kraft werden. Das ist alles andere als sicher. Laut Umfragen könnte die SPD Nummer eins im Bundestag werden. Der Stratege Schäuble hätte sich damit selbst ausgetrickst. Er war es, der im Frühjahr in den CDU-Gremien den Machtkampf zwischen Markus Söder und Laschet für den Aachener entschied. Zuletzt versuchte Schäuble, einen Teil seiner Verantwortung auf Angela Merkel abzuwälzen. Sie hätte 2018 nicht nur als CDU-Chefin, sondern auch als Kanzlerin zurücktreten sollen, um Nachfolgern mehr Raum zu lassen.

Bei den SPD-Frauen drängt sich als Bundestagspräsidentin bislang niemand so richtig auf. Einzige Frauen an der Parlamentsspitze waren Annemarie Renger (SPD, 1972-76) und Rita Süssmuth (CDU, 1988-98). 

So fällt ein anderer Name. Rolf Mützenich. Moment mal. Ist der Kölner nicht beliebter Fraktionschef? Ja, ist er. Und Mützenich ist derzeit wohl auch gewillt, weiterzumachen. 2019 übernahm er als Feuerwehrmann die Fraktionsspitze, nachdem Andrea Nahles von Machtkämpfen zermürbt aus der Politik floh. Mützenich galt als Notnagel. Inzwischen hat er sich einen Namen gemacht als hartnäckiger und kundiger Verhandler, etwa in den Koalitionsausschüssen mit der Kanzlerin.

Mit einem starken Wahlergebnis würden aber viele Jungsozialisten in den Bundestag kommen. Die ohnehin stärkste Gruppe in der SPD-Fraktion, die Parlamentarische Linke, würde noch mächtiger. PL-Chef ist Matthias Miersch, ein Vertrauter von Kevin Kühnert. Der Niedersachse wäre vor vier Jahren fast Justizminister geworden. Nun könnte der Klimaexperte nach dem Fraktionsvorsitz greifen. 

Eine Kampfabstimmung in einer Sitzung am Mittwoch nach der Wahl soll vermieden werden. Aus Partei- und Fraktionskreisen ist zu hören, dass Mützenich bei einem SPD-Sieg eben auch Bundestagspräsident werden kann - wenn er es denn will. So wäre in der Fraktion der Weg für Miersch frei. Nicht völlig ausgeschlossen ist, dass noch ein anderer Niedersachse auf die Fraktionsführung schielt. Generalsekretär Lars Klingbeil, neben Olaf Scholz wesentlicher Architekt des SPD-Comebacks.

Bleibt indes Mützenich Fraktionschef, wen würde die SPD für die Bundestagsspitze nominieren? Der Scheinwerfer könnte auf einen Neuling im Plenum fallen. Berlins Noch-Bürgermeister Michael Müller hätte die nötige Reife und rhetorische Stärke, den repräsentativen und doch machtvollen Posten als zweiter Mann im Staat auszufüllen, heißt es.

Für Außenstehende mag das Amt auf den ersten Blick ein wenig langweilig erscheinen. Der Parlamentspräsident sitzt leicht erhöht über dem Rednerpult, erteilt dem Kanzler oder der Kanzlerin das Wort, ruft aufmüpfige Abgeordnete zur Ordnung. Dabei ist er viel mehr als nur Zeremonienmeister. Schäuble war seit dem Einzug der AfD, die den Parlamentsbetrieb regelmäßig zu torpedieren versuchte und im Plenum immer wieder rüde, verächtliche und rassistische Töne anschlug, ein würdevoller Hüter der Demokratie und ein Korrektiv. Mit dem Versuch, fraktionsübergreifend eine große Wahlrechtsreform auf die Beine zu stellen, scheiterte auch er. Heraus kam eine Mini-Reform der großen Koalition, die die weitere Aufstockung des heute 709 Mandate zählenden Bundestags nicht stoppen wird. Das Parlament arbeitsfähig, kosteneffizient und bürgernah zu halten, das wird eine zentrale Aufgabe des künftigen Präsidenten sein.

Wird die Union wieder stärkste Kraft, könnte Schäuble voraussichtlich bleiben. Es sei denn, die Union landet bei einer Ampel in der Opposition. Dann könnten Jüngere in CDU und CSU den Job beanspruchen. Der Rekordmann als Hinterbänkler, „isch over“ für Schäuble? Bei einem SPD-Sieg könnte er als Alterspräsident noch den neuen Bundestag eröffnen. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland ist zwar ein paar Monate älter. Aufgrund einer Gesetzesänderung zählt beim Alterspräsidenten aber nicht mehr das Lebensalter, sondern das Dienstalter im Parlament. Und da macht Schäuble keiner was vor. Zuletzt überholte er August Bebel.

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