Weltbericht zur Artenvielfalt In der Welt der Menschen sterben die Arten

Berlin/Paris · Die biologische Vielfalt auf der Erde schwindet immer schneller. Ein aufrüttelnder Report mahnt ein Umdenken in Wirtschaft und Politik an.

  Tiger in Indien, eine von vielen bedrohten Arten. Der neue Weltbericht warnt vor gravierenden Folgen des Artensterbens – auch für Menschen.

Tiger in Indien, eine von vielen bedrohten Arten. Der neue Weltbericht warnt vor gravierenden Folgen des Artensterbens – auch für Menschen.

Foto: Sanjeev Gupta/EPA/dpa/Sanjeev Gupta

(dpa) „Lonesome ­George“ starb 2012 mit weltweiter Aufmerksamkeit als letzte Pinta-Riesenschildkröte. Der Mensch habe schon mindestens 680 Wirbeltierarten zum Aussterben gebracht, ermittelten 145 führende Experten für die erste weltweite Öko-Inventur seit 14 Jahren. Derzeit ist demnach etwa eine Million von geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit vom Aussterben bedroht. „Die Verluste von Ökosystemen und Arten schaffen eine direkte Bedrohung des Wohlergehens der Menschheit in allen Regionen der Welt“, mahnt einer der Hauptautoren, Josef Settele, vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle. Wenn etwa immer mehr Insektenarten sterben, gebe es irgendwann keine mehr, die zur Bestäubung der Pflanzen nachrücken könnten, und es gebe Schwierigkeiten mit der Nahrungsproduktion. „Artenvielfalt ist unsere Lebensversicherung“.

Die weltweite Rate des Artensterbens sei derzeit zehn- bis hundertmal höher als im Schnitt der vergangenen zehn Millionen Jahre, und sie steige weiter, heißt es in dem Kernpunktepapier, das der Weltbiodiversitätsrat IPBES, eine Einrichtung der Vereinten Nationen, nach drei Jahren Arbeit am Montag in Paris vorstellte. Dafür gebe es inzwischen überwältigende Beweise, die ein unheilvolles Bild zeichneten, warnte der IPBES-Vorsitzende Robert Watson. „Wir erodieren global die eigentliche Basis unserer Volkswirtschaften, Lebensgrundlagen, Nahrungsmittelsicherheit und Lebensqualität.“ Die Menschheit müsse dringend umsteuern.

Ein Schlüsselelement für eine nachhaltige Entwicklung sei das Umdenken in Wirtschaft und Politik, schreiben die Autoren: Weg von kurzfristigen Gewinnen und Indikatoren wie dem Bruttoinlandsprodukt hin zu langfristigem Nutzen für die Menschheit. Weg vom Paradigma des Wachstums hin zur Entwicklung eines nachhaltigen Finanz- und Wirtschaftssystems. Menschen sollten ermutigt werden, von Überkonsum und Abfallbergen wegzukommen. Ein Preis für Industriegüter, der die wahren sozialen und ökologischen Kosten nicht beachte, könne Waldzerstörung und Überfischung fördern. Die Bilanz des Berichts ist alarmierend.

Brennpunkt Wald: Rund 100 Millionen Hektar Tropenwald, die dreifache Fläche Deutschlands, verschwanden dem Bericht zufolge bereits zwischen 1980 und dem Jahr 2000, etwa für Rinderherden in Lateinamerika und Palmölplantagen in Südostasien – das Öl steckt etwa in Lebensmitteln, Kosmetik und Biosprit. Deutschland ist zu 32 Prozent mit Wald bedeckt, indes fehlt es an Urwald, sagt Peter Finck vom Bundesamt für Naturschutz. „Allerdings ist derzeit auf 2,8 Prozent der Waldfläche eine natürliche Entwicklung ohne forstliche Nutzung dauer­haft gesichert.“ Tendenz steigend.

Brennpunkt Landwirtschaft: Von der Rapsmonokultur bis zum Schlammloch für das Bioschwein – über ein Drittel der globalen Landfläche ist Agrarland. Die Agrarproduktion hat sich laut IPBES seit 1970 vervierfacht. Wegen des weltweiten Verlustes von Bienen und anderen Bestäubern seien Ernteerträge im Wert von jährlich 235 bis 577 Milliarden Dollar (210 bis 515 Milliarden Euro) in Gefahr. In Deutschland ist sogar rund die Hälfte der Fläche Agrarland, etwa 17 Millionen Hektar. „Um den Bedarf an Agrarprodukten zu decken, beansprucht die Bundesrepublik zusätzlich 5,5 Millionen Hektar in anderen Ländern“, heißt es in einer WWF-Studie von 2015.

Brennpunkt Umweltverschmutzung: In die Meere gelangt laut Weltbericht heute zehnmal so viel Plastik wie 1980. Es schädige etliche Tierarten und könne über die Nahrung auch zum Menschen kommen. Der Großteil fällt laut WWF zwar in Südostasien an. Doch auch deutsche Unternehmen exportieren Plastikmüll in Länder wie Malaysia und Indonesien, wo sie die Umwelt schädigen. Zudem gelangen 300 bis 400 Millionen Tonnen Schwermetalle, Lösungsmittel und andere giftige Stoffe jährlich in die Flüsse der Welt.

Brennpunkt Fischerei: Rund ein Drittel der Fischbestände sind überfischt. Der Weltrat für Biodiversität plädiert unter anderem für wirksame Fangquoten, Schutzgebiete und eine enge Zusammenarbeit mit Fischerei und Konsumenten. Letzteren rät der WWF, auf entsprechende Öko-Siegel zu achten.

Brennpunkt Politik: Der IPBES-Bericht verzeichnet Hunderte Milliarden Dollar an naturschädlichen Subventionen pro Jahr etwa für Kohle, Öl, Gas und Landwirtschaft. Allein 55 Milliarden Euro solcher Unterstützungen werden laut Bundesamt für Naturschutz in Deutschland gezahlt. „Naturschädigendes Verhalten darf nicht länger zu Vorteilen, sondern muss spürbar zu Nachteilen im Wettbewerb führen“, sagt BfN-Präsidentin Beate Jessel. Ähnlich reagiert Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) auf den Weltbericht. Sie spricht von einem „Weckruf“ und mahnt zum Umsteuern. Wie beim Klimaschutz könne das Umweltministerium die Probleme nicht alleine lösen. Entscheidend sei, dass alle Bereiche mitmachten, „vor allen Dingen die Agrarpolitik“.

 Das weltweite Bienensterben schreitet voran. Wenn die Bestäuber fehlen, sind auch Ernteerträge in Gefahr, schreiben die Experten.

Das weltweite Bienensterben schreitet voran. Wenn die Bestäuber fehlen, sind auch Ernteerträge in Gefahr, schreiben die Experten.

Foto: picture alliance/dpa/dpa Picture-Alliance / Annette Riedl
 Rund ein Drittel der Fischbestände ist überfischt. Der Bericht fordert wirksame Fangquoten, Schutzgebiete und ein gemeinsames Umsteuern.

Rund ein Drittel der Fischbestände ist überfischt. Der Bericht fordert wirksame Fangquoten, Schutzgebiete und ein gemeinsames Umsteuern.

Foto: dpa/Jens Büttner

Brennpunkt Klima: Der Weltbericht stellt fest, dass etliche Arten unter der Erderwärmung leiden. Selbst bei einer Begrenzung auf 1,5 bis zwei Grad, wie von der Weltgemeinschaft beschlossen, würden die Verbreitungsgebiete der meisten Arten stark schrumpfen. Andererseits kosten Monokulturen etwa zur Produktion von Biosprit viel Naturfläche. Fazit: „Jeder Einzelne hat durch sein Verhalten zwar Einfluss auf das System, doch die Politik muss Rahmenbedingungen setzen“, fordert Günter Mitlacher vom WWF. „Es kann nicht sein, dass konventionell produzierte Lebensmittel immer noch billiger sind als solche aus dem Bio-Anbau.“ Es gebe viele Stellschrauben, die im Rahmen der Marktwirtschaft möglich seien, wie etwa eine sozialverträgliche CO2-Steuer.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort