Aufbläh-Effekt Warum der Bundestag wohl schon wieder größer wird

Berlin · 598 Kandidaten sollen an diesem Sonntag mit der Erst- und der Zweitstimme in den Bundestag gewählt werden. Wie es kommt, dass es beim letzten Mal tatsächlich 709 wurden und es nun weit über 800 sein könnten.

 Der leere Plenarsaal des Bundestages.

Der leere Plenarsaal des Bundestages.

Foto: dpa/Michael Kappeler

Mit Hochdruck lässt der Bundestag kurz vor der Wahl an der Spree ein weiteres großes Bürogebäude errichten. Damit es schneller geht, wurde die Modulbauweise gewählt. So wird klar: Auch die Verantwortlichen rechnen fest damit, dass aus Befürchtung Gewissheit wird: Das Aufblähen des Parlamentes schreitet voran. Bald platzt der Bundestag aus allen Nähten. 598 Abgeordnete sieht das Bundeswahlgesetz im Normalfall vor. Doch auch die vor vier Jahren als erschreckend hohe Zahl gewerteten 709 Mandate dürften dieses Mal weit übertroffen werden.

„Es trifft nach der Wahl voraussichtlich genau das ein, wovor wir immer gewarnt haben: Der Bundestag wächst nach unseren Berechnungen auf vermutlich über 830 Mandate an, weil sich insbesondere die CSU, aber auch CDU und SPD gegen eine grundlegende Wahlrechtsreform gestemmt haben“, sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Britta Haßelmann, unserer Redaktion. Die Zahl ergebe sich aus einer Hochrechnung, der die Grünen die letzte infratest dimap-Umfrage und die aktuelle Erststimmenprognose von election.de zugrunde gelegt hätten. Mit dem Reformvorschlag von Grünen, FDP und Linken wäre der Bundestag wohlwieder so groß geworden wie der jetzige, für das erneute starke Wachsen trügen aber Union und FDP die Verantwortung.

Was steckt dahinter? In den ersten sechs Jahrzehnten des Bundestages lag dessen Mitgliedszahl stets nahe am gesetzlichen Orientierungsrahmen. Zumindest schrumpfte er im Laufe der Wahlperiode darauf zu. Denn wenn Inhaber von Überhangmandaten ausschieden, rückte für sie niemand nach. In ihren Rechten und Pflichten unterscheiden sich solche Politiker nicht von ihren Kollegen. Sie haben in ihrem jeweiligen Wahlkreis genauso die meisten Stimmen bekommen wie alle anderen. Wenn aber in ihrem Bundesland die Zahl der über die Erststimme direkt gewählten Abgeordneten die Gesamtzahl der Mandate überschreitet, die ihr entsprechend ihrem Anteil an den Zweitstimmen zusteht, bildet die Differenz die Zahl der Überhangmandate.

Bis zu den Wahlen 2009 wurde dies als unproblematisch betrachtet. Mal profitierte die eine, mal die andere Volkspartei davon. Doch 2012 verfügte das Bundesverfassungsgericht, dass Überhangmandate durch Ausgleichsmandate für die anderen Parteien kompensiert werden müssen, damit sich die Zweitstimmen-Kräfteverhältnisse im Bundestag genau abbilden. Der Effekt schien zunächst unproblematisch zu sein: Der nächstgewählte Bundestag hatte 2013 lediglich neun Sitze mehr als der nach altem Recht. Doch 2017 schnellte die Mandatszahl auf 709 hoch. Das hängt damit zusammen, dass die Volksparteien kleiner, die kleinen Parteien größer wurden. Dann kann es leicht passieren, dass eine Partei viele Wahlkreise mit gerade mal 30 Prozent der Erststimmen gewinnt und damit 70, 80 oder 90 Prozent der Direktmandate im jeweiligen Bundesland einsammelt, obwohl sie laut Zweitstimme nur 30 Prozent bekommen soll. Deshalb waren 2017 schon 65 Ausgleichsmandate fällig.

Wie schon sein Vorgänger Norbert Lammert mahnte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eine dringende Reform an, um die Arbeitsfähigkeit des Bundestages zu erhalten. Doch die Parteien verhakten sich. Die Parteien mit vielen Überhangmandaten versuchten, bei den Ausgleichsmandaten zu kürzen, die Parteien, die fast ausschließlich von den Zweitstimmen leben, versuchten bei den durch Erststimmen entstehenden Mandaten zu kürzen. Am Ende kam ein Mini-Reförmchen heraus, wonach lediglich drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden sollen.

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