Idar-Oberstein Wachsende Aggressionen lange vor dem Mord

Analyse · Die Bluttat von Idar-Oberstein ist der grausame Höhepunkt eines eskalierenden Streits um Pandemie-Auflagen. Wie Politik und Gesellschaft nun darauf reagieren sollen.

 Blumen, Kerzen und Botschaften an das Opfer: Der Tatort in Idar-Oberstein.

Blumen, Kerzen und Botschaften an das Opfer: Der Tatort in Idar-Oberstein.

Foto: dpa/Thomas Frey

Ob der 49-jährige Deutsche aus Idar-Oberstein je auf einer Querdenker-Demonstration war, ob er je auf Polizisten oder Journalisten losgegangen ist, ob er überhaupt mit der Querdenker-Szene vernetzt ist - all das werden erst die weiteren Ermittlungen zeigen. In seinem ersten Geständnis verwendete er jedoch offenbar genau die Chiffren, die seit Monaten auch dazu herhalten müssen, die wachsende Aggressivität und Rücksichtslosigkeit gegen Andersdenkende zu begründen. Mit einem grauenhaften Unterschied: In Idar-Oberstein wurde nicht gedroht, gerempelt oder geschlagen. Hier geriet der Maskengegner am Samstag in einer Tankstelle mit einem 20-jährigen Verkaufsmitarbeiter aneinander, wollte sich von ihm nichts vorschreiben lassen, ging nach Hause, holte eine Waffe, kam wieder, eskalierte den Streit und erschoss den jungen Mann.

Die Bundesregierung zeigte sich am Mittwoch tief bestürzt über die „grausame Tat“. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sprach von „Pandemie-Extremismus“, gegen den jeder eintreten müsse. „Ich kann nur sehr dafür werben, dass wir alle miteinander genau aufpassen, wie wir Worte wägen, wie wir umgehen mit Verschwörungstheorien“. Bundesinnenminister Horst Seehofer hielt sich mit einer Bewertung zurück. Sein Sprecher verwies darauf, dass es für „generalisierende Rückschlüsse“ angesichts der noch laufenden Ermittlungen zu früh sei.

Das sehen die Fans der Tat - ja, die gibt es aus unbegreiflichen Gründen tatsächlich - in den einschlägigen Kanälen der „sozialen“ Netzwerke gänzlich anders. Sie quittieren den Mord mit Daumen hoch und Herzchen, sie jubeln über „eine Zecke weniger“ und freuen sich über die Tat als angeblichen Anfang eines Befreiungskampfes gegen die „Merkel-Diktatur“. Sie feuern aus der Anonymität wieder und wieder auf den Tankstellenkassierer, indem sie seinen Tod als zwangsläufige Folge der Pandemie-Auflagen darstellen. Die Menschen seien einfach genervt vom „Maskenscheiß“, da drehe irgendwann mal einer durch, und das sei „gut so“.

Auf der anderen Seite zieht auch Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz eine Verbindung: „Nach den entsetzlichen rechtsterroristischen Taten von Halle und Hanau oder dem Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke wird erneut deutlich, wie groß die Gefahren sind, die von einem ungehemmt grassierendem Hass und der zunehmenden Vernetzung von Rechtsextremisten, Antisemiten, Reichsbürgern, Verschwörungsideologen, Corona-Leugnern und Querdenkern ausgeht“, sagt von Notz unserer Redaktion.

Schon im Mai hatte der NRW-Verfassungsschutz in einer groß angelegten Analyse die Szene der Corona-Leugner als „Quelle für die Rekrutierung neuer Anhänger der rechtsextremistischen Mischszene“ beschrieben. Dadurch entstehe ein „großes Maß an Gefährdung für den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland“, hielten die Verfassungsschützer fest. Die ursprüngliche Skepsis gegen staatliche Pandemie-Maßnahmen habe sich mehr und mehr zu einer grundlegend demokratiefeindlichen und sicherheitsgefährdenden Haltung entwickelt. Die ursprüngliche Intention gerate in den Hintergrund. Vielmehr würden die Proteste dazu genutzt, staatliche Institutionen, prominente Einzelpersonen, Bundes- und Landesregierungen und die Medien selbst zu einem „Protest- und Hassobjekt“ zu machen.

Die nachfolgenden Querdenker-Demos bestätigten diese Prognose. Aus den Aufmärschen heraus gingen Teilnehmer wiederholt gegen Polizisten und Journalisten vor, einzelne Querdenker riefen am Rande indirekt zum Mord an politischen Gegnern auf - und setzten damit in der Realität nur fort, was die Kommentatoren auf den Querdenker-Kanälen im Internet unentwegt taten. Als Reaktion löschte Facebook unlängst rund 150 Querdenken-Konten. Hat das alles den Maskengegner von Idar-Oberstein dazu gebracht, sich einen Revolver zu besorgen, um ein tödliches „Zeichen“ zu setzen?

Das Umfeld für Selbstradikalisierung wird bereits vor dem Ende der Ermittlungen in Ansätzen sichtbar. Der Täter folgte einschlägigen Twitter-Protagonisten, die ihre oft riesige Gefolgschaft mit einem Gespinst aus überdehnten Fakten-Interpretationen, Halbwahrheiten, Lügen und nicht immer nur versteckten Aufrufen zum „Widerstand“ überziehen - jedenfalls die Corona-Schutzmaßnahmen permanent zu delegitimieren versuchen.

Unter dem Eindruck des Mordes an einem jungen Mann, der lediglich zur Einhaltung der Maskenpflicht beim Kauf von ein paar Flaschen Bier ermahnte, zeigen sich auch die Innenexperten der Bundestagsfraktionen erschüttert. „Wir müssen möglicherweise mit einer explosiven Radikalisierung in Teilen der Querdenker- und Corona-Leugner-Szene rechnen“, sagt FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae. Aus seiner Sicht müssten deshalb die Sicherheitsbehörden ihre Analyse-Instrumente im Hinblick auf diesen Phänomenbereich langfristig schärfen. „Die Corona-Pandemie ist möglicherweise nur der Funke, der eine schwelende Glut entfacht“, vermutet der FDP-Politiker.

Auch die Vizevorsitzende der AfD-Fraktion, Beatrix von Storch fordert eine harte Strafe für den Mord von Idar-Oberstein. Sie verweist jedoch darauf, dass die Querdenker eine „sehr heterogene Bewegung“ darstellten, in der es auch „viele linke und ehemalige Grünen-Wähler“ gebe. Radikalisierung müsse durch eine vernünftige Politik bekämpft werden. Und die bestehe darin, den Streit im Parlament auszutragen, Bürgerrechte zu schützen, die Gesellschaft nicht in Geimpfte und Ungeimpfte zu spalten, den Rechtsstaat durchzusetzen und zu normalen Vor-Corona-Verhältnissen zurückzukehren.

Erwartungsgemäß sieht das der stellvertretende Fraktionschef der Linken, André Hahn, ganz anders. „Die Verharmlosung der Corona-Leugner muss endlich ein Ende haben“, verlangt Hahn. Das rechte und leider auch gewalttätige Potenzial in deren Reihen sei zu lange unterschätzt worden. Kritik an Regierungsentscheidungen sei natürlich zulässig, Androhungen oder gar die Anwendung von Gewalt seien aber schwere Straftaten, die entschieden verfolgt werden müssten. Deshalb sei auch das polizeiliche Gewährenlassen bei massiven Verstößen gegen Versammlungsauflagen nicht länger hinnehmbar.

Für Unionsvize Thorsten Frei hat der Mord von Idar-Obersein einmal mehr die von den Querdenkern ausgehende Gefahr gezeigt. Es sei zwar richtig, dass die Szene heterogen sei - sie sei aber auch „uneingeschränkt radikal“. Als Konsequenz müsse nun nicht nur gegen Straftaten, sondern auch die Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas eingeschritten werden. „Aus meiner Sicht braucht es aktuell ein konsequentes Vorgehen gegen die Querdenker mit allen rechtsstaatlichen Mitteln, um Nachahmungseffekte zu verhindern“, verlangt der CDU-Politiker. Ähnliche Schlussfolgerungen zieht SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese: Nicht nur der Täter müsse mit aller Härte bestraft werden, es müsse auch dem, der sich durch diese Tat in seiner Menschenverachtung befeuert sehe, klar gemacht werden: „Wer gegen andere Menschen hetzt und Hass sät, der wird zur Verantwortung gezogen.“

Die gesetzlichen Grundlagen hat der Bundestag dafür geschaffen. Idar-Oberstein wird zum Lackmustest für ihre Anwendung und ihre Wirkung.

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