Mathe-Unterricht Verzweiflung zum Quadrat

Saarbrücken/München · Mathematik gilt als eines der unbeliebtesten Schulfächer. Die heftige Kritik am diesjährigen Abitur ist zwar eher eine Momentaufnahme. Aber sie offenbart ein grundsätzliches Problem, das auch viele Lehrer im Saarland umtreibt.

 (Symbolbild)

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Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Flöte aus dem Off, Gitarre in der Hand, und dann legt er lässig los: „Klammer auf a plus b, Klammer zu ins Quadrat ist gleich a² plus 2ab plus b²..:“ Die binomischen Formeln als Rap-Song. Auf so was muss man erst mal kommen! Ein junger Mann aus Sachsen kam darauf: Johann Breuning alias DorFuchs erreicht auf Youtube Millionen mit seinen „Mathe-Songs“. Sieht so der Algebra-Unterricht der Zukunft aus? „Schön wär’s“, mögen sich viele denken. Denn Mathematik – gerade in der Oberstufe – ist eines der meistgefürchteten Fächer. Die Aufgaben erfordern oft nicht nur logisches Denken und Formelwissen, sondern auch komplexe Transferleistungen. Wenn dann auch noch das Pensum schwer zu bewältigen ist, kann das geschehen, was in diesem Jahr auf das Mathe-Abitur folgte: Proteste und Online-Petitionen in mehreren Bundesländern, wütende Debatten über Notenschlüssel und Schwierigkeitsgrade. Und dahinter die Frage: Wie zeitgemäß ist der Mathe-Unterricht eigentlich noch?

„Wir dürfen uns nichts vormachen: Die Oberstufenmathematik hat kaum einen Alltagsbezug zur Lebenswelt eines 17-Jährigen“, sagt Marcus Hahn, Vorsitzender des saarländischen Philologenverbands. Das meint er nicht etwa anklagend. Vielmehr sei der Stoff eben so konzipiert, dass er Schülern eine Basis für das Studium naturwissenschaftlicher Fächer vermittelt. Hahn ist auch angesichts so mancher Matheabi-Aufgabe aus diesem Jahr skeptisch, ob es für das Verständnis immer von Vorteil ist, die Aufgaben in einen „Anwendungsbezug reinzupressen“. Handeln müsse man eher an einer anderen Stelle: „Die Schüler haben viel zu wenig Zeit zum Üben.“

Das bestätigt auch der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Heinz-Peter Meidinger. Überhaupt habe sich in den vergangenen Jahren viel im Mathematikunterricht verändert. Wahrscheinlichkeitsrechnung, Algorithmen, Statistik, Zinsrechnung, Informatik seien wichtiger geworden. „Dafür sind andere Gebiete eher in den Hintergrund getreten, etwa das Kopfrechnen in der Grund-, Unter- und Mittelstufe, Binomialverteilung, Simulationen, Differentialgleichungen in der Oberstufe.“ In einigen Ländern wurden Leistungskurse abgeschafft, andernorts schrumpfte der Umfang des Unterrichts. Nun fehle Zeit zum Vertiefen.

Mathe-Professor Reinhard Oldenburg von der Uni Augsburg sagt, beim Abspecken der Lehrpläne seien Themen aus Algebra und Geometrie weggefallen. „Diesen Prozess könnte man weitertreiben. Man sollte neu bewerten, welchen Bildungswert beispielsweise der Kathetensatz hat oder die Flächenberechnung unter irgendwelchen Funktionsgraphen.“ Der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz, Matthias Weingärtner, schlägt angesichts der Klimademos vor, beispielsweise zu berechnen, wie schnell ein Gletscher schmilzt. „Das hätte einen deutlich näheren Bezug als das exponentielle Wachstum von Seerosen in einem Teich.“ Gegen solche Brückenschläge hat auch Marcus Hahn nichts einzuwenden. Auch nicht gegen moderne Hilfsmittel wie Youtube-Videos, sofern sie seriös sind. Nur dürfe es nicht sein, dass Schüler die fehlende Zeit im Unterricht zu Hause mit Lernvideos kompensieren müssten. Immerhin: Glaubt man den Online-Kommentatoren, schaffen es Kanäle wie „The Simple Maths“ oder „DorFuchs“ gut, komplexen Stoff mit Beispielen zu veranschaulichen, und dabei auch noch unterhaltsam zu sein. „95 Prozent von uns nutzen solche Formate“, sagt der saarländische Abiturient Phillipp Martini. Er kenne auch Lehrer, die sie im Unterricht verwenden. Martini war es, der nach dem Matheabitur 2019 eine Online-Beschwerdepetition startete. Am Unterricht an sich hat der 18-Jährige nichts auszusetzen. Er lobt sogar, dass die Aufgaben seit 2000 weniger abstrakt seien. Außerdem hätten die Abi-Proteste dafür gesorgt, dass die Aufgaben auf den Prüfstand kommen. Etwas wofür sich auch Hahn einsetzt. Schon im kommenden Schuljahr könnte einiges aus seiner Sicht besser werden: Mit der Oberstufenreform werde es wieder mehr Wahlfreiheit geben. Aktuell müssen Abiturienten im Saarland eine Abschlussprüfung in Mathematik ablegen. Dieser Zwang falle dann weg. Hahns Prognose: „Das wird viele Probleme lösen.“ Und an diejenigen, die in Mathematik dann immer noch ein „Horrorfach“ sehen, richtet er einen mutmachenden Appell: „Mathe-Unterricht ist viel besser als sein Ruf.“

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