Carola Rackete Sea-Watch kritisiert „Sündenbockpolitik“ bei der Migration

Rom/Berlin · Die Solidarität mit der Kapitänin Carola Rackete ist ungebrochen. Gestern Abend kam die 31-Jährige wieder auf freien Fuß.

 Etwa 100 Menschen solidarisierten sich am Dienstag vor dem italienischen Generalkonsulat in Köln mit Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete.

Etwa 100 Menschen solidarisierten sich am Dienstag vor dem italienischen Generalkonsulat in Köln mit Sea-Watch-Kapitänin Carola Rackete.

Foto: dpa/Federico Gambarini

In Deutschland scheint es dieser Tage zum guten Ton zu gehören, sich hinter Carola Rackete zu stellen. Die 31-jährige Kapitänin hatte das Rettungsschiff „Sea-Watch 3“ mit 40 Migranten an Bord am Samstag unerlaubt nach Italien gesteuert – und war daraufhin festgenommen worden. Ein Spitzenpolitiker nach dem anderen setzt sich für sie ein – selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kritisierte Italien nach der Festnahme. „Wir haben hier gerade eine Veränderung in der Debatte. Es wird wieder drüber geredet“, sagte Sea-Watch-Sprecher Ruben Neugebauer am Dienstag bei einer Pressekonferenz in Berlin. Das sei gut. Doch „Worten müssen Taten folgen“, forderte Sea-Watch. Auch die Bundesregierung könne sich nicht ständig hinter ihrer Forderung nach einer europäischen Lösung verstecken.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) lehnt es ab, dass Deutschland alleine Bootsmigranten aufnimmt – auch wenn er bei jüngsten Notlagen mehrfach bereit war, einige der Geretteten nach Deutschland zu holen. Wie zu hören ist, könnte Deutschland rund ein Dutzend Migranten von der „Sea-Watch 3“ aufnehmen, Frankreich bis zu zehn, Finnland acht, Portugal fünf. Zudem käme Luxemburg als Aufnahmeland infrage. Die Gespräche liefen am Dienstag noch.

Die Seenotrettung im Mittelmeer spaltet die EU zutiefst. Seit langem wird über einen Mechanismus zur Verteilung der Bootsflüchtlinge gestritten – ohne Ergebnis, weshalb Italien seit einem Jahr einen rigorosen Abschottungskurs fährt. Innenminister Matteo Salvini hat es besonders auf die Hilfsschiffe abgesehen und will sie aus dem Mittelmeer verbannen. Dafür bekommt er viel Zuspruch. In Deutschland auch – von der AfD.

Es gebe eine „komplette Sündenbockpolitik“ in Sachen Migration, sagte Neugebauer. „Im Moment ist es eine überschaubare Zahl. Wir haben eigentlich überhaupt kein Problem mit Migration.“ Zahlen des italienischen Innenministeriums zeigen: 2019 kamen bis zum 2. Juli 2784 Migranten in Italien an, davon im Juni 1223. Im Juni vor zwei Jahren waren es noch 23 526 gewesen.

Nun gibt es eine Kapitänin, mit der die festgefahrene Debatte ein Gesicht bekommen hat. Plötzlich schnellen die Spenden in die Höhe. Der Aufruf der Fernsehmoderatoren Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf brachte bis Dienstagnachmittag mehr als 920 000 Euro ein. Auf einer italienischen Facebook-Seite wurden mehr als 430 000 Euro gesammelt. Zudem gab es auch am Dienstag bundesweit Demon­strationen für Rackete. Nach Angaben der Polizei protestierten Hunderte Menschen in Berlin, Köln und Frankfurt und verlangten die Freilassung der 31-Jährigen.

Sea-Watch hatte am 12. Juni 53 Migranten vor Libyen gerettet und mehr als zwei Wochen vergeblich auf eine Anlegeerlaubnis in Europa gewartet. Rackete fuhr das Schiff „Sea-Watch 3“ zunächst unerlaubt in italienische Gewässer und schließlich bis in den Hafen von Lampedusa. Nun muss sie sich schweren Vorwürfen stellen. Ihr droht eine Gefängnisstrafe. Unter anderem wird ihr Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte vorgeworfen. In einem parallelen Verfahren ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Beihilfe zur illegalen Migration. Am 9. Juli soll sie wegen dieses Vorwurfs vernommen werden. Am gestrigen Abend kam die deutsche Sea-Watch-Kapitänin wieder frei. Ein italienisches Gericht entschied, den Hausarrest gegen die 31-Jährige aufzuheben. Innenminister Matteo Salvini kündigte an, sie in ihr Heimatland ausweisen zu lassen. Bereits am Montag hatte die 31-Jährige vor dem Richter dargestellt, warum sie unerlaubt in den Hafen gefahren ist. Die Situation mit den Migranten an Bord sei „sehr angespannt“ gewesen, sagte Rechtsanwalt Leonardo Marino danach. Die Staatsanwaltschaft aber sieht diese Notlage nicht. Schließlich hatte Sea-Watch auch außerhalb des Hafens ärztliche Hilfe bekommen. 13 Migranten konnten zudem frühzeitig von Bord gehen.

Salvini bezeichnet Seenotretter immer wieder als Komplizen der Schmuggler, die Migranten auf die gefährliche Fahrt ins Mittelmeer schicken. Bewiesen ist das nicht. Die Staatsanwaltschaft in Agrigent will nun im Fall der Sea-Watch prüfen, ob der Rettungseinsatz unweit der libyschen Such- und Rettungszone tatsächlich notwendig war.

Drei Organisationen, darunter die deutsche Sea-Eye, sind derzeit wieder unterwegs in die Rettungszone vor Libyen. Auch Sea-Watch will weitermachen. Auf das Schiff muss die Organisation vorerst aber verzichten. Es wurde Medienberichten zufolge am Dienstag nach Licata gefahren, wo es vorerst noch beschlagnahmt bleibt. Notfalls müsse eben ein neues her, gab Neugebauer zu verstehen.

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