Verfassungsgericht urteilt Schluss mit drastischen Hartz-IV-Sanktionen

Saarbrücken/Karlsruhe · Nach einem Urteil des Verfassungsgerichtes dürfen Jobcenter ab sofort nicht mehr so streng sein. Die Saarländische Armutskonferenz spricht von einem „Schritt in die richtige Richtung“.

 Hartz-IV-Empfänger, die einen Termin im Jobcenter versäumten, wurden bislang automatisch sanktioniert. Ab sofort ist das nicht mehr so einfach.

Hartz-IV-Empfänger, die einen Termin im Jobcenter versäumten, wurden bislang automatisch sanktioniert. Ab sofort ist das nicht mehr so einfach.

Foto: dpa/Oliver Berg

(gda/afp) Auch im Saarland gibt es sie: Menschen, die „aus dem System gefallen sind“. Wolfgang Edlinger hat einige von ihnen kennengelernt: Sie leben auf der Straße, sammeln Flaschen, sind abgekoppelt von staatlicher Hilfe. Für den Vorsitzenden der Saarländischen Armutskonferenz (SAK) beginnt ein solches Schicksal oft mit Sanktionen vom Jobcenter. Diese seien „die erste Stufe, um jemanden auf die Straße zu treiben“. Ein drohendes Szenario lautet demnach in etwa wie folgt: Ein Termin beim Jobcenter wird unentschuldigt verpasst – das Amt kürzt das Arbeitslosengeld II. Eine Weiterbildungsmaßnahme, die der Langzeitarbeitslose als „sinnlos“ erachtet, wird abgebrochen – das Amt kürzt die ohnehin knappen Leistungen weiter. Der Hartz-IV-Empfänger gerät in eine Abwärtsspirale, die Gesundheit leidet, er resigniert, empfindet Wut, wendet sich ab vom Jobcenter, landet auf der Straße. Für Edlinger ist deshalb völlig klar: „Sanktionen sind menschenunwürdig.“

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Dienstag ist nach Ansicht von Edlinger deshalb „ein Schritt in die richtige Richtung“. Die Karlsruher Richter erklärten Leistungskürzungen des Jobcenters in Teilen für verfassungswidrig. Von „Zufriedenheit“ nach dem Urteil will der SAK-Vorsitzende dennoch nicht sprechen. Denn nach wie vor sind Sanktionen möglich: Der Staat darf auch künftig Leistungen kürzen, wenn ein Hartz-IV-Empfänger beispielsweise eine als zumutbar eingestufte Arbeit ablehnt.

Für Befürworter der derzeitigen Praxis ist dieser Aspekt des Urteils ein Erfolg: Denn das als Grundprinzip der umstrittenen Arbeitsmarktreform geltende „Fördern und Fordern“ kann damit auch weiterhin Sanktionen zur Folge haben. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Peter Weiß, nannte das die „wichtigste Botschaft“ des Urteils. Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände begrüßte es ebenfalls, dass dieses Prinzip verfassungsrechtlich bestätigt worden sei.

Allerdings urteilte das Verfassungsgericht auch, dass der Spielraum bei den Sanktionen beschränkt ist. Hintergrund dafür ist, dass das menschenwürdige Existenzminimum gesichert sein muss. Wenn Sanktionen verhängt werden, müssen diese zumindest verhältnismäßig sein. Dabei gelten gerade im Bereich des Arbeitslosengelds II „strenge Anforderungen“, wie das Verfassungsgericht hervorhebt. Die bestehenden Gesetzesregelungen werden dieser Vorgabe nach Ansicht des Gerichts „in verschiedener Hinsicht nicht gerecht“. Für zumutbar halten die Verfassungsrichter dabei im derzeitigen System nur eine Kürzung von 30 Prozent der Leistungen.

Dabei handelt es sich momentan um die erste Sanktionsstufe. Diese greift, wenn etwa eine als zumutbar eingestufte Arbeit abgelehnt wird. Der Gesetzgeber könne sich auf „plausible Annahmen“ stützen, wonach eine solche Kürzung dazu beitrage, für eine Mitwirkung der Betroffenen zu sorgen.

Anders sieht dies nach Ansicht der Verfassungsrichter bei den weiteren Sanktionsstufen aus. Bei einer zweiten Pflichtverletzung werden bereits 60 Prozent des Regelsatzes gestrichen, bei jedem weiteren Fall innerhalb eines Jahres fällt die Unterstützung sogar komplett weg. Solche drastischen Kürzungen hält das Verfassungsgericht für unvereinbar mit dem Grundgesetz. Die Richter begründeten dies auch damit, dass es keine Belege für die Wirksamkeit solcher umfassenden Kürzungen gebe.

Die Karlsruher Richter stellten außerdem klar: Sanktionen können, müssen aber nicht verhängt werden. Das Verfassungsgericht monierte, dass der Hartz-IV-Satz bei einer Pflichtverletzung zwingend gekürzt werden muss. Die Behörden seien vielmehr gehalten, im Einzelfall zu schauen, ob ein solcher Schritt zu einer „außergewöhnlichen Härte“ führen würde. Auch die Vorgabe, Leistungen immer gleich für drei Monate zu kürzen, hielt der Prüfung in Karlsruhe nicht stand. Eine Sanktion müsse grundsätzlich enden, sobald der Betroffene seine Pflichten erfülle.

Den Ansatz, jeden Einzelfall zu betrachten, hält auch Edlinger für richtig. Nicht aber die Sanktionen. Stattdessen solle man stärker darauf achten, welche Voraussetzungen eine Person mitbringe. Man müsse fragen: „Was kann ich diesem Menschen anbieten?“ Edlinger ist überzeugt: „Jeder Mensch hat Interesse an einer Tätigkeit.“ Zumindest von der Grundstruktur her gebe es niemanden, der einfach nichts tun wolle.

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