Schuldgefühle in Corona-Tagen „Eine Bibel-Versicherung gegen Schuldgefühle gibt es nicht“

Saarbrücken · Der Theologe und Schriftsteller spricht über den Begriff der Schuld in Zeiten der Corona-Pandemie – und über dessen Bedeutung für politische Entscheidungen.

  Der Theologe Klaas Huizing lebt in Saarbrücken.

Der Theologe Klaas Huizing lebt in Saarbrücken.

Foto: picture-alliance / dpa/dpa Picture-Alliance / Jörg Carstensen

Corona-Infizierte sind eine Gefahr für ihre Liebsten und Schutzbefohlenen. Nicht nur mancher Altenpfleger wird damit leben müssen, dass er am Tod eines anderen Menschen schuld ist. Wir sprachen darüber mit dem in Würzburg lehrenden Theologen und Schriftsteller Professor Klaas Huizing, der in Saarbrücken lebt.

Das Thema Schuldigwerden ist ein Topos der Menschheitsgeschichte, nicht nur in der christlichen Lehre, auch in der antiken Mythologie. Heute kehrt der Begriff in die Politik zurück. Politiker fürchten, die Kontaktsperre zu lockern, weil sie dadurch vermeintlich schuldig werden am Tod von Menschen aus besonders gefährdeten Gruppen. Halten Sie diese ja eher moralische Begrifflichkeit für eine taugliche Kategorie, wenn es um politische Entscheidungen geht?

HUIZING Ich plädiere dafür, in der aktuellen Krise zunächst ein Moratorium in der Schuld-Frage – nicht in der Frage nach Exit-Strategien – einzulegen und alle Kräfte zu bündeln, um diese Krise zu meistern. Dann allerdings muss eine Debatte um Verantwortlichkeiten, auch im großen Stil, geführt werden. Etwa: Ist im Gesundheitssektor zu sehr gespart worden? Offenbar gab es seit 2011 bereits Szenarien, die eine vergleichbare Pandemie durchgespielt haben, ohne die notwendigen Konsequenzen zu ziehen – zum Beispiel eine Beendigung der Abhängigkeit pharmazeutischer Produkte von China und Pakistan. Diese Debatte verlangt nach einer Moderation, hier hat die Theologie als Orientierungswissenschaft eine wichtige Funktion. Und ja: Moralisches Vokabular ist wichtig, wenn es in seiner orientierenden Funktion zum Einsatz kommt.

Sie haben sich in Ihrem Buch „Eva, Noah und der David-Clan“ mit Scham und Schuld in der Bibel beschäftigt. In der Corona-Krise tauchen diese Begriffe ebenfalls auf. Viele Menschen quält die Vorstellung, dass sie womöglich andere anstecken könnten, dass sie Täter werden. Was können Sie Ihnen aus theologischer Sicht dazu sagen?

HUIZING Oft drängen sich in diesen Situationen falsche Scham und falsche Schuldgefühle in den Vordergrund. Eine falsche Scham liegt vor, wenn ältere Menschen sich dafür schämen, dass der Lockdown, der vor allem Risikogruppen schützt, als Folge auch wirtschaftliche Existenzen in den jüngeren Kohorten bedroht. Die Würde des Menschen, das ist eine jüdisch-christliche Errungenschaft, wird nicht nach Alter graduell zugesprochen. Auch Schuldgefühle, mögliche Ansteckung betreffend, sind oft unbegründet, sofern man den Empfehlungen der Virologen, die häufig angepasst werden, folgt.

In der christlichen Lehre geht es immer auch um Reue, die das Vergeben Gottes erst ermöglicht und damit Erlösung. Doch was sollen Menschen, die selbst von ihrer Infektion gar nichts wissen, andere aber tödlich infizieren, bereuen? Oder Ärzte, die die Triage vollziehen müssen, also Menschen wissentlich dem Tod überlassen?

HUIZING Über Reue zu reden, macht nur Sinn, wenn eine Tat ausgeführt wurde, die anderen schadet, obwohl es eine Alternative gab. Nur dann auch macht es Sinn, von Schuld und Täterschaft zu reden. Das trifft auf beide Beispiele so nicht zu. Hinsichtlich der Triage muss es zunächst darum gehen, dieses Horrorszenario zu vermeiden. Politik bemüht sich nach Kräften im Gespräch mit den Virologen in dieser Frage. Sinnvoll ist es, sollte es dazu dennoch kommen, die Entscheidung auf mehrere Schultern zu verteilen, wie das durch ein ethisches Konsil in der Palliativmedizin passiert. Dann ist auch garantiert, dass die Entscheidungen nicht nach Kriterien wie Lebenserwartung oder sozialer Rolle gefällt werden. Die Würde ist inklusiv zu denken, kommt allen gleichermaßen zu.

Die Ansteckungsketten legen offen, wer was getan hat. Altenpfleger könnten in die Situation geraten, dass sie nachweislich als Erste das Virus in ein Heim gebracht haben und dadurch viele Menschen sterben. Nicht wenige Menschen leben auch mit hochbetagten Eltern zusammen oder mit einem Risikopatienten als Lebenspartner. Stellt sich eine Infektion ein, ist klar, dass sie „eingeschleppt“ wurde. Wie verkraften Menschen eine solche Schuld? Sagt die Bibel was dazu?

HUIZING Eine Bibel-Versicherung gegen Schuldgefühle gibt es nicht. Christen, vor allem Protestanten, neigen dazu, alles aufs Gewissen zu legen, zu hypermoralisieren. Aber eine Schuld liegt nicht vor, weil hier nicht willentlich falsch trotz einer bestehenden Alternative gehandelt wurde. Die Folgen sind gleichwohl tragisch. Und obwohl keine Schuld vorliegt, kann es zu schrecklichen Selbstvorwürfen kommen. Dann gibt es Hilfe auch von außen. Die oft belächelte Telefonseelsorge leistet in diesen Wochen unschätzbare Hilfe. Schuldgefühle und Reue sind dagegen angebracht, wenn Personen Risikopatienten absichtsvoll anhusten.

Was kann trösten?

HUIZING Religion übernimmt eine sehr wichtige Entlastungsfunktion. Seelsorge macht sprachfähig, kann Verzweiflung, Wut und Hoffnung adressieren. Und die Hoffnung kennt gerade auch an Ostern ein sehr konkretes Bild für Hoffnung, das etwas aus der Mode gekommen ist und gerne abgehängt wird: das Bild der Auferstehung.

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