Testfall für das Stromsystem der Zukunft

Berlin · Energieexperte Patrick Graichen über die Auswirkungen der Sonnenfinsternis auf das Elektrizitätsnetz Gehen heute die Lichter aus, wenn der Mond die Sonne verdunkelt - und schlagartig der Solarstrom wegfällt? Nein, die Netzbetreiber haben alles im Griff, schwört Patrick Graichen vom Energieberatungsunternehmen "Agora Energiewende" im Gespräch mit unserem Berliner Korrespondenten Werner Kolhoff.

Wir haben gerade sehr sonnige Frühlingstage. Wie hoch ist jetzt der Anteil von Solarstrom an der Energieversorgung?
Patrick Graichen:
Am Dienstag und am Mittwoch haben wir Spitzenwerte verzeichnet. Zur Mittagszeit lieferten Solarstromanlagen jeweils rund 18 Gigawatt - rund ein Viertel des Stroms, der in Deutschland dann insgesamt produziert wurde.

Und wie viel Solarstrom wird heute schlagartig während der Sonnenfinsternis fehlen?
Patrick Graichen:
Wenn es überall wolkenfrei wäre, würde die Stromerzeugung innerhalb von 65 Minuten zunächst um zwölf Gigawatt einbrechen, um dann innerhalb von 75 Minuten wieder um 19 Gigawatt anzusteigen. Das ist so, als ob erst zwölf große Kraftwerke ausfallen und eine Stunde später wieder 19 ans Netz gehen.

Kommt das Stromnetz damit klar? Wie wird das technisch ausgeglichen?
Patrick Graichen:
Die Netzbetreiber bereiten sich seit Monaten auf die Sonnenfinsternis vor. Sie haben sich zum Beispiel mit zusätzlicher Regelleistung eingedeckt, große Wind- und Solaranlagen lassen sich per Fernsteuerung abstellen, und die Leistung der Pumpspeicherkraftwerke reicht aus, um mehr als Hälfte der Leistungsveränderungen abzufedern.

In diesem Fall konnten sich alle gut darauf einstellen. Aber wie reagiert das Stromnetz, wenn so etwas überraschend passiert? Wind kann relativ schnell abflauen.
Patrick Graichen:
Entscheidend ist das Zusammenspiel aller Wind- und Solaranlagen, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Deren gemeinsame Leistung ändert sich nur sehr langsam. Das lässt sich das recht gut prognostizieren.

Im Jahr 2030 sollen nach dem Plan der Bundesregierung 50 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Energien kommen. Klappt das dann auch noch?
Patrick Graichen:
Die Ausschläge beim Strom aus Erneuerbaren Energien werden im Jahr 2030 nicht stärker sein als jetzt bei der Sonnenfinsternis. Wenn das Stromsystem mit der Sonnenfinsternis zurechtkommt, dann 2030 auch mit einem Ökostromanteil von 50 Prozent.

Und wenn es 2050 dann 80 Prozent sind?
Patrick Graichen:
Dann erst recht. Wir werden im Jahr 2050 immer wieder Tage erleben, an denen Sonne und Wind ein Mehrfaches des Stromverbrauchs liefern. Das wird nur funktionieren, wenn das Stromsystem viel flexibler wird. Die Bundesregierung hat das erkannt und will noch in diesem Jahr entsprechende Gesetze vorschlagen.

Der Großteil des Stroms wird künftig im Norden aus Windkraft produziert, das ist am günstigsten. Die meisten Verbrauchszentren befinden sich aber in Süddeutschland. Und irgendwie muss der Windstrom von der Küste an den Main und weiter kommen. Neue Speicher werden wir hingegen erst brauchen, wenn mehr als 60 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren Energien kommt, also erst in etlichen Jahren.

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