Interview Frank Bsirske „Wir haben Meilensteine in der Tarifpolitik gesetzt“

Berlin · Der scheidende Langzeit-Chef der Gewerkschaft Verdi nennt die Agenda 2010 seine größte Niederlage. Erfolge sieht er auch. Und Herausforderungen bei der Rente.

 Frank Bsirske ist seit 2001 Verdi-Chef. Damals wurde Verdi aus fünf Einzelgewerkschaften gebildet.

Frank Bsirske ist seit 2001 Verdi-Chef. Damals wurde Verdi aus fünf Einzelgewerkschaften gebildet.

Foto: dpa/Britta Pedersen

Frank Bsirske (67) ist seit 2001 Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi – und der dienstälteste Gewerkschaftsvorsitzende Deutschlands. Kommende Woche wird sein Nachfolger gewählt. Einziger Kandidat ist Verdi-Vize Frank Werneke (52). Bsirske zieht Bilanz:

Herr Bsirske, was war Ihre schmerzlichste Niederlage?

BSIRSKE Dass wir die Agenda 2010 nicht verhindern konnten. Das eigene Leben nicht planen zu können, weil man nicht weiß, ob man in zwei Monaten seinen Job noch hat, nicht zu wissen, ob man mit seinem geringen Lohn perspektivisch über die Runden kommt. Solche Verhältnisse sind für Millionen von Arbeitnehmern mit der Agenda 2010 zurückgekehrt. Durch Leiharbeit, Lohndumping und Scheinselbstständigkeit. Eine schlimme Entwicklung.

Und was war Ihr größter Erfolg?

BSIRSKE Dass es gelungen ist, mit Verdi die starke Dienstleistungsgewerkschaft in Deutschland zu schaffen. Eine Gewerkschaft, die schon viele Erfolge erzielt hat. Zum Beispiel die Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns, oder die deutlichen Reallohnzuwächse in den letzten Jahren. Überhaupt haben wir Meilensteine in der Tarifpolitik gesetzt. Bei Tarifverträgen etwa zur Digitalisierung, zur mobilen Arbeit und bei der Aufwertung der sozialen Berufe.

Zu Beginn Ihrer Amtszeit 2001 lag die Zahl der Verdi-Mitglieder bei gut 2,7 Millionen. Jetzt sind es nur noch 1,9 Millionen. Was lief schief?

BSIRSKE Das hat mehrere Ursachen. So stellte sich nach der Verdi-Gründung heraus, dass rund 400 000 Mitglieder bis zu einem Jahr mit ihren Beiträgen im Rückstand waren, weil die einzelnen Gründungsorganisationen mit jeweils möglichst vielen Mitgliedern in den Zusammenschluss gehen wollten. Die meisten sind dann, als wir nachgehakt haben, ausgetreten. Durch den Umbruch in den Branchen und den Abbau hunderttausender Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst haben wir ebenfalls viele Mitglieder verloren.

Kann es auch sein, dass Verdi nicht mehr attraktiv genug ist?

BSIRSKE Also, wir hatten allein im letzten Jahr 122 000 Neueintritte. Viele Organisationen gibt es nicht in Deutschland, die so was vorweisen können.

Gerade im Dienstleistungssektor kommt es besonders häufig zu Scheinselbständigkeit und Lohndumping. Was heißt das für die Gewerkschaftsarbeit?

BSIRSKE Das ist eine große Herausforderung. Und dass gerade die Dienstleistungsbereiche zu den streikintensivsten Sektoren der Wirtschaft geworden sind, hat ja genau damit zu tun. Die meisten Arbeitskämpfe sind darauf gerichtet, entweder Tarifflucht der Arbeitgeber zu verhindern, oder eine Tarifbindung wieder herzustellen. In klassischen Industriebranchen gehören Tarifverträge gewissermaßen zur Kultur der Arbeitsbeziehungen. In vielen Dienstleistungsbereichen muss sie erst noch erstritten werden.

Sie haben sich auch immer politisch eingemischt. Wie mit der Forderung nach einer drastischen Anhebung des Rentenbeitrags auf 26 Prozent. Stehen Sie dazu noch?

BSIRSKE Es muss doch darum gehen, die gesetzlichen Renten wieder auskömmlich zu machen. Da können auch Beitragsanhebungen kein Tabu sein, wenn sie paritätisch finanziert werden. Heute zahlen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut neun Prozent Rentenbeitrag und sollen obendrein noch riestern. Das sind schon mehr als 13 Prozent. Bei einer paritätischen Finanzierung müsste der Arbeitgeber das Gleiche drauflegen. Da sind wir bei etwa 26 Prozent. Damit wäre auch die Teilprivatisierung der Altersvorsorge beendet, durch die die Arbeitgeber entlastet werden und von der die Versicherungswirtschaft profitiert. Und das um den Preis einer millionenfachen Altersarmut. Mit einer sozialstaatlichen Rentenpolitik hat das nichts zu tun.

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