16 Jahre Kanzlerin Merkel Die Kapitänin geht von Bord

Berlin · Es gibt eine ganze Generation in Deutschland, die kennt vom eigenen Erleben nur sie als Kanzlerin: Angela Merkel. Nun verlässt sie die Kommandobrücke. Nur einer stand dort bislang länger als sie. Doch auch diesen könnte sie noch überflügeln.

Rückblick auf Angela Merkel als Bundeskanzlerin: Nach 16 Jahren von Bord
Foto: dpa/Peter Kneffel

Bestimmt wird wieder John Tenniel herhalten müssen. Jener Tenniel, der im März 1890 in der britischen Satirezeitschrift „Punch“ eine berühmt gewordene Karikatur veröffentlichte. Sie zeigt Reichskanzler Otto von Bismarck, der nach seinem Rücktritt über eine Außentreppe ein Schiff verlässt. „Der Lotse geht von Bord“, lautete der deutsche Titel. Wenn Angela Merkel demnächst nach 16 Jahren von der Kommandobrücke im Kanzleramt geht, liegt dieses Bild nahe - auch wenn der Vergleich historisch völlig hinkt.

Denn weder war die 67-jährige CDU-Politikerin nur Lotsin, sondern - wenn man in diesem Bild bleiben will - die Kapitänin auf der MS Deutschland. Noch verlässt sie das Staatsschiff unfreiwillig wie seinerzeit Bismarck, den Kaiser Wilhelm II. zu diesem Schritt gedrängt hatte. Aber sie geht. Und es wird eine Zäsur für Deutschland und weit darüber hinaus, deren Folgen noch nicht abschätzbar sind.

16 Regierungsjahre - wenn sich etwas wie ein roter Faden durch diese Zeit zieht, dann sind es Krisen in unterschiedlichsten Dimensionen: Finanz- und Bankenkrise, Euro-Krise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Coronakrise - um nur die größten zu nennen. Dazu kommen mindestens noch die transatlantische Krise unter US-Präsident Donald Trump und die unionsinterne Krise unter CSU-Chef Horst Seehofer.

Schon der Amtsantritt ist überschattet. Als Merkel am 30. November 2005 ihre allererste Regierungserklärung hält, beginnt sie diese mit einem Hinweis auf die Entführung der deutschen Archäologin Susanne Osthoff und ihres Fahrers im Irak. Eines zeichne Deutschland aus, sagt Merkel dazu im Bundestag: „Vor dem Leid Anderer verschließen wir weder unsere Augen noch unsere Herzen. Wir wissen, was Solidarität vermag.“ Die Sätze lesen sich, als seien sie auf die aktuelle Flutkatastrophe gemünzt, die vielleicht letzte Krise ihrer Amtszeit.

Die Kanzlerin nimmt es mit dem ihr eigenen Pragmatismus: „Ein Leben ohne Krisen ist natürlich einfacher. Aber wenn sie da sind, müssen sie bewältigt werden. Dafür sind wir ja Politikerinnen und Politiker“, sagte sie jüngst in der Bundespressekonferenz. Die meisten dieser Krisen seien nicht hausgemacht gewesen. Hier zeige sich eben, „dass wir Teil einer Weltgesamtheit sind“.

MERKEL UND DIE BANKEN

Besonders deutlich wird dies in der internationalen Banken- und Finanzkrise. Im September 2008 meldet die US-Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an. Die deutsche Hypo Real Estate droht mit in den Strudel gerissenen zu werden. In einem spektakulären Auftritt versichern die Kanzlerin und ihr Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) den Bürgern am 5. Oktober vor laufenden Kameras: „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.“ Die Erklärung zeigt die gewünschte Wirkung, der Run auf Banken und Geldautomaten bleibt aus. Die Hypo Real Estate wird später verstaatlicht. Auch andere Banken wie die Commerzbank stützt der Staat mit Milliardensummen.

MERKEL UND DER EURO

Von der Krise des Bankensystems führt eine direkte Linie zu der des Euros. Einigen EU-Mitgliedern - allen voran Griechenland - droht wegen ihrer exorbitanten Staatsverschuldung der Bankrott. Die Existenz des einheitlichen Währungssystems steht auf der Kippe. Merkels Grundüberzeugung, vorgetragen in einer Regierungserklärung im Bundestag am 26. Oktober 2011: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa. Das darf nicht passieren.“ Eine nicht ganz uneigennützige Warnung, denn die Kanzlerin weiß auch: „Deutschland kann es auf Dauer nicht gut gehen, wenn es Europa schlecht geht.“

Deshalb ist Merkel auch zu Hilfen bereit, die aber an „strenge Bedingungen“ - Strukturreformen und harte Einsparungen - zu knüpfen seien. Ihr strenger Kurs beim Ausgestalten des Euro-Rettungsschirms macht Merkel vor allem in Griechenland zeitweise zur Hassfigur. Auf Plakaten von Demonstranten oder in Karikaturen ist sie immer wieder in Nazi-Uniform zu sehen.

MERKEL UND DIE FLÜCHTLINGE

Wohl kein anderer Satz Merkels hat einen derartigen Nachhall wie ihre Einschätzung der Flüchtlingskrise im Sommer 2015: „Wir haben so vieles geschafft - wir schaffen das“, versichert die Kanzlerin am 31. August. Die wahre Dimension des Problems ist zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht absehbar. In der Nacht zum 5. September entscheiden die Regierungen in Berlin und Wien, mehrere tausend Flüchtlinge aus Ungarn ins Land zu lassen - eine Art Initialzündung. Zehn Tage später hält Merkel ihren Kritikern vor: „Wenn wir jetzt noch anfangen müssen, uns dafür zu entschuldigen, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“

Merkels Problem: Während ein großer Teil der Bevölkerung eine enorme Hilfsbereitschaft an den Tag legt, verweigert ihr ein anderer Teil die Gefolgschaft. Die AfD, bis dahin konzentriert auf die Ablehnung des Euros, springt auf das Thema - und reduziert Merkel und ihre gesamte Politik bis heute darauf. Stimmung machen auch rechte Gruppierungen wie Pegida. Die aus dem Osten kommende Kanzlerin wird gerade dort immer öfter mit „Merkel-muss-weg“-Sprechchören und schlimmeren Parolen empfangen.

Als Folge der Grenzöffnung steigt die Zahl der Asylanträge rasant. In vielen Nuller-Jahren liegen sie gerade mal bei rund 30 000. Doch 2015 werden es fast 477 000 und 2016 mehr als 745 000. Einher geht ein Wahlerfolg der AfD nach dem anderen.

MERKEL UND DIE CSU

Die stark steigende Zuwanderung führt auch zu einem tiefen Zerwürfnis zwischen den Schwesterparteien CDU und CSU und wird so zum Risiko für die Regierungskoalition. Beim CSU-Parteitag im November 2015 führt Parteichef Horst Seehofer die CDU-Vorsitzende auf offener Bühne vor. Er hält ihr regelrecht eine Standpauke und fordert vehement eine nationale Zuwanderungs-Obergrenze. Merkel, die eine europäische Lösung anstrebt, lehnt diese ab. Wie ein Schulmädchen steht sie mit verschränkten Armen neben dem Rednerpult. Die Stimmung ist frostig. Sie bleibt es auch, als Seehofer wenige Wochen später mit Blick auf den Flüchtlingszustrom von einer „Herrschaft des Unrechts“ spricht.

2016 kommt Merkel erstmals nicht zum CSU-Parteitag. Im Jahr darauf fährt sie wieder hin. Doch der Streit ist keineswegs ausgeräumt. Im Gegenteil. Im Juli 2018 eskaliert er. Seehofer verkündet erst völlig überraschend seinen Rücktritt als Bundesinnenminister und CSU-Chef, 24 Stunden später dann den Rücktritt vom Rücktritt. Mühsam finden CDU und CSU halbwegs einen Kompromiss. Letztlich sind es aber die wieder stark sinkenden Asylbewerberzahlen (2019: knapp 166 000) und die ab Anfang 2020 alles überlagernde Corona-Pandemie, die einen asylpolitischen Burgfrieden innerhalb der Union ermöglichen.

MERKEL UND DIE PANDEMIE

Fernsehansprachen ihrer Kanzlerin kennen die Deutschen nur zum Jahreswechsel. Umso dramatischer ist es, als sich Merkel am 18. März 2020 auf diese Weise an die Bürger wendet. Die Corona-Pandemie hat auch Deutschland erfasst. Ähnlich wie ihr „Wir schaffen das“ in der Flüchtlingskrise fasst sie auch jetzt ihre Botschaft in wenige Worte: „Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“

Merkel gehört in der Pandemie zum Kreis der Vorsichtigen, dringt wiederholt auf schärfere Maßnahmen. Doch sie bekommt die Begrenztheit ihrer Macht im föderalen System vor Augen geführt. Als Mitte Oktober 2020 die zweite Welle durchs Land rollt und die Länderregierungschefs aus ihrer Sicht zu zögerlich agieren, wird Merkel aus einer Ministerpräsidentenkonferenz mit dem genervten Satz „Dann sitzen wir eben in zwei Wochen wieder hier“ zitiert. Die ihrem wissenschaftlich trainierten Verstand Folgende behält Recht.

In der Pandemie erlebt Merkel auch eine schwere Niederlage. Im Kampf gegen die dritte Welle beschließt eine Bund-Länder-Runde im März 2021 zu nächtlicher Stunde eine fünftägige „Osterruhe“, die keine 48 Stunden später wieder einkassiert wird. Die Kanzlerin entschuldigt sich öffentlich und übernimmt die volle Verantwortung: „Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler.“ Auf der Haben-Seite steht dagegen der mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron initiierte und dann im Kreis der EU-Staaten mühsam durchgesetzte Wiederaufbaufonds von 750 Milliarden Euro für die Post-Corona-Zeit.

MERKEL UND DAS KLIMA

Einst als „Klimakanzlerin“ tituliert, fällt ihre Bilanz heute gemischt aus, wie Merkel erst vor kurzem in der Bundespressekonferenz deutlich gemacht hat. Als sie 2005 Kanzlerin geworden sei, habe der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung etwa 10 Prozent betragen, heute seien es deutlich über 40 Prozent. Und von 1990 bis 2010 seien die CO2-Emissionen um 20 Prozent, bis 2020 noch einmal um 20 Prozent verringert worden. Es sei also „einiges passiert“, so Merkel. Aber gemessen am Ziel, bei der Begrenzung der Erderwärmung möglichst nah bei 1,5 Grad zu bleiben, „ist nicht ausreichend viel passiert“. Auch den beschlossenen Kohleausstieg bis spätestens 2038 sehen Kritiker als zu unambitioniert an.

MERKEL UND DIE ZUMUTUNGEN

Eigentlich zeichnen sie Geradlinigkeit und Prinzipientreue aus. Umso überraschender kommen bei Merkel Kurskorrekturen. Mit einigen hat sie vor allem ihrer eigenen Partei einiges zugemutet. So galt für viele in der Union die Wehrpflicht als Dogma. Doch im Dezember 2010 beschließt die Bundesregierung, sie auszusetzen. Manche Konservative kreiden Merkel diese Wende bis heute als schweren Fehler an. Das gilt auch für den Ausstieg aus der Atomenergie als Folge der Reaktorkatastrophe in Fukushima 2011, der bis Ende 2022 abgeschlossen sein soll. Und dass Merkel mit einer Äußerung in einer Talkrunde 2017 die Weichen für die Ehe für alle stellt, fällt ebenfalls in diese Kategorie. Dass sie selbst im Bundestag mit Nein stimmt, versöhnt ihre Kritiker nicht. 2018 gibt Merkel den CDU-Vorsitz ab.

MERKEL UND DAS PERSÖNLICHE

Mit Merkel zieht 2005 ein nüchterner Stil ins Kanzleramt ein. Extravaganzen ihres SPD-Vorgängers Gerhard Schröder, der sich im Brioni-Anzug und mit Cohiba-Zigarre gefiel, sind ihr fremd. Merkel bereitet sich akribisch auf Termine vor, kennt alle Details. Die promovierte Physikerin geht Probleme mit naturwissenschaftlicher Sachlichkeit an. Zehnmal in Folge ernennt das US-Magazin „Forbes“ sie zur mächtigsten Frau der Welt. Ihr Markenzeichen werden die zur Raute gefalteten Hände.

Merkels Privatleben bleibt privat. Das gilt bis zuletzt. Auf die Frage, was sie nach dem Ausscheiden aus der Politik machen werde, antwortet sie in diesen Tagen ausweichend: „Ich werd' dann schon mit der Zeit was anfangen können.“ Einige wenige Fotos aus dem Urlaub etwa beim Spaziergehen auf Ischia oder beim Wandern in Südtirol mit Ehemann Joachim Sauer bieten seltene Einblicke in das Leben jenseits der Politik. Merkels Liebe für die Oper zeigt sich im jährlichen Besuch der Wagner-Festspiele in Bayreuth.

MERKEL UND IHRE LETZTEN WOCHEN IM AMT

Am 7. September wird der Bundestag zu seiner wahrscheinlich letzten Sitzung dieser Wahlperiode zusammenkommen. Auf der Tagesordnung steht bislang nur ein Punkt: eine dreistündige „Debatte zur Situation in Deutschland“. Absehbar ist, dass die Unionsfraktion diese für eine große Erfolgsbilanz der Merkelschen Kanzlerschaft nutzen wird, die Opposition aber für eine große Generalabrechnung. Dazwischen liegt eine weite Spanne - und ein reiches Betätigungsfeld für Historiker.

Es passt zu Merkel, dass sie für sich selbst nicht so recht Bilanz ziehen will. Getan hat dies aber George W. Bush, ihr erster von vier US-Präsidenten: „Angela Merkel hat Klasse und Würde in eine sehr wichtige Position gebracht und sehr schwierige Entscheidungen getroffen. Sie hat das getan, was das Beste für Deutschland ist, und sie hat es aus Prinzip getan“, sagte er soeben der Deutschen Welle.

Noch aber ist sie im Amt - und das könnte nach der Bundestagswahl am 26. September eine Weile so bleiben. Denn nach Artikel 69 Grundgesetz endet ihre Amtszeit zwar mit dem Zusammentreten des neuen Bundestags. Auf Ersuchen des Bundespräsidenten ist ein Kanzler aber verpflichtet, die Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers weiterzuführen.

So könnte die geschäftsführend weiterregierende Merkel sogar noch ihren einstigen politischen Ziehvater Helmut Kohl als den Kanzler mit der längsten Amtszeit ablösen. Am 17. Dezember wäre es so weit. Unrealistisch ist dies nicht. Nach der Wahl 2017 wurde Merkel erst am 14. März 2018 im Bundestag wieder zur Kanzlerin gewählt.

(dpa)
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