Neue EU-Kommission ungewiss Von der Leyens Stotter-Start
Brüssel · Zügig stellten sich die Staats- und Regierungschefs hinter eine zweite Amtszeit Ursula von der Leyens, zügig schaffte sie die Wiederwahl, wollte schnelle erste Ergebnisse der neuen Kommission. Doch nun ist der Motor ins Stottern geraten, wird es wohl Winter, bis es losgeht.
Im Frühjahr, so hieß es vor knapp einem Jahr, werde Italiens Ex-Regierungschef und Ex-EZB-Präsident Mario Draghi seinen Bericht mit Empfehlungen für ein wettbewerbsfähigeres Europa vorstellen. Daraus wurde nichts. Dann sollte er noch vor den Europawahlen bekannt sein und diskutiert werden können. Auch das kam nicht zustande. Seitdem steigt die Spannung von Woche zu Woche. Als sich Draghi diesen Mittwoch in vertraulichen Runden sowohl mit den EU-Botschaftern als auch den Fraktionsvorsitzenden des Europaparlamentes traf, war die Erwartung auf dem Höhepunkt. Doch das 400-Seiten-Werk hatte er immer noch nicht dabei, blieb in seinen Ausführungen so vage, dass die Gesprächsteilnehmer enttäuscht auseinandergingen. Nun soll es Anfang nächster Woche so weit sein. Oder auch nicht.
„Beispiellose Zusammenarbeit“ will Draghi nach eigenen Worten anmahnen. Es soll nicht nur um mehr Investitionen in Bildung und Forschung, um schlankere Strukturen, schnellere Entscheidungen und mehr Effizienz gehen, sondern auch um neue Zuständigkeiten für die EU, etwa im Bereich der Rüstung. Draghi soll angedeutet haben, dass sich etliche seiner Ideen bereits in den politischen Leitlinien befänden, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wenige Stunden vor ihrer Wiederwahl im Europäischen Parlament am 18. Juli in Straßburg vorlegte. Von ihr wird berichtet, sie habe den Bericht auch noch nicht und erst Recht noch nicht gelesen.
Klar ist, dass der Bericht am meisten Sinn macht, wenn es um die Zusammensetzung der neuen EU-Kommission geht, von der Leyen also den abstrakten Willen, Europa wettbewerbsfähiger zu machen, gleich mit konkreten Portfolios für die einzelnen Kommissionsmitglieder umzusetzen beginnt. Kurz vor ihrer Wahl erweckte sie den Eindruck, aufs Tempo zu drücken, formulierte gleich ein Dutzend Vorhaben, die in den ersten hundert Tagen umgesetzt sein sollen. Seitdem sind bereits 50 Tage vergangen. Aber der Countdown für die angeblich so dringend zu erledigenden Vorhaben steht immer noch auf hundert. Und es sieht so aus, als würde er da auch noch weitere knapp 80 Tage verharren.
Vor fünf Jahren hatte die lange Spanne von den Wahlen Ende Mai bis zum Amtsantritt der Kommission am 1. Dezember vor allem damit zu tun, dass Wahlsieger Manfred Weber weder im Parlament noch im Rat eine Mehrheit als neuer Kommissionspräsident vorweisen konnte, es mehrere vergebliche Anläufe brauchte, bis mit wochenlanger Verspätung von der Leyen ans Werk gehen konnte. Dieses Mal nahmen sich die EU-Verantwortlichen vor, schneller Klarheit zu schaffen, was ihnen auch gelang. Deshalb war die Kommissionspräsidentin zunächst guter Dinge, mit ihrer neuen Kommission am 1. November loslegen zu können.
Bis Freitag letzter Woche hatte sie den Mitgliedsländern Zeit gelassen, geeignete Kandidaten für die neue Kommission vorzuschlagen. Es sollte jedes der 25 angesprochenen Länder jeweils eine Frau und einen Mann ins Rennen schicken, damit die Frauen, die die Hälfte der Bevölkerung in der EU stellten, auch in der Kommission angemessen vertreten seien. Deutschland und Estland waren raus, weil Berlin bereits sein Vorschlagsrecht erschöpft hat durch die Wahl der Deutschen von der Leyen an die Spitze der Kommission und Tallin mit der inzwischen zurückgetretenen Ministerpräsidentin Kaja Kallas die neue Außenbeauftragte der Union innerhalb der Kommission stellen darf.
Von der Leyen erwartete also 50 Namen im Berlaymont, dem Sitz der Kommission. Doch es wurden offenbar nur 26. Denn einzig Bulgarien kam von der Leyens Bitte nach und präsentierte eine Frau und einen Mann. Die anderen benannten vor allem Männer. Von der Leyen versucht das Ergebnis gleichwohl als Erfolg zu verkaufen. Wenn sie den Brief mit der Bitte der Geschlechterparität nicht geschrieben hätte, wären nur vier Frauen und 21 Männer nominiert worden, jetzt sei die Zahl der Frauen immerhin zweistellig. Dabei sind sie und Kallas jedoch schon mitgerechnet.
Eine in Brüssel kursierende Liste mit der angeblichen Kommissionsbesetzung wird als Testballon der Kommissionsspitze gewertet. Damit wolle sie nur herausfinden, wie es ankommt, wenn ein rechtspopulistischer Fratelli-Politiker der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni Exekutiv-Vizepräsident der Kommission wird. Auch Meloni hatte keine Frau, sondern einzig Europaminister Raffaele Fitto vorgeschlagen. Von der Leyen selbst bekräftigte nun, dass noch nichts entschieden sei. Sie habe nämlich noch nicht mit allen Kandidaten und Regierungschefs gesprochen und arbeite weiter daran, den Frauenanteil zu erhöhen.
So lange sie jedoch noch daran bastelt, können sich die Anwärter nicht auf ihre Intensiv-Befragungen im Parlament vorbereiten, können auch die Überprüfungen möglicher Befangenheit durch das Parlament noch nicht beginnen. Deshalb gelten ursprüngliche Zeitpläne mit einem Beginn des „Grillens“ im Parlament noch im September als überholt. Auch die Mitarbeiter in den Generaldirektionen können die Unterlagen für das Briefing der Kandidaten noch nicht final vorbereiten, so lange die konkreten Zuschnitte und Zuständigkeiten der Häuser nicht feststehen, die fachlich zuständigen Abgeordneten noch keinen Fragenkatalog entwickeln. Von der Leyen behält sich das vor, um Länder mit der Aussicht auf mehr fachlichen Einfluss dazu zu verlocken, doch noch mehr Frauen ins Spiel zu bringen. Und so verschiebt sich alles weiter und weiter und macht einen Start erst im Dezember immer wahrscheinlicher.