Kanzlerin Angela Merkel kündigt Überprüfung aller Atomkraftwerke an

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verteidigt die energiepolitische Kurskorrektur und bleibt bei ihrem Nein zu einem Libyen-Einsatz. Es sind hektische Tage, doch Angela Merkel wirkt beim Interview mit unseren Korrespondenten Werner Kolhoff und Hagen Strauß im Kanzleramt ganz entspannt. Auch mit Blick auf die Landtagswahlen zeigt sich die Parteichefin der CDU weiter optimistisch.

Frau Bundeskanzlerin, was empfinden Sie, wenn Sie die Erdbebenbilder aus Japan sehen?

Merkel: Diese Bilder machen mich unglaublich traurig. Diese Zerstörung, diese wie ausradierten Städte, wir sehen etwas im wahrsten Sinne des Wortes Unfassbares. Ich muss immer wieder an die Menschen in ihrer Not denken.

Durch das Atomunglück hat bei vielen der Glaube an die Beherrschbarkeit dieser Technologie gelitten. Auch bei Ihnen?

Merkel: Energiepolitik muss eine Sache verlässlicher wissenschaftlicher Annahmen sein. Und einige dieser Annahmen müssen wir jetzt, nach Fukushima, neu überprüfen. Wir werden in Deutschland zwar kein Erdbeben dieses Ausmaßes erleben und auch keinen Tsunami, trotzdem: Wenn schon in einem Land mit hohen Sicherheitsanforderungen wie Japan etwas für unmöglich Gehaltenes eingetreten ist, dann hat die Welt lernen müssen, dass auch für extrem unwahrscheinlich gehaltene Ereignisse eintreten können. Mit diesem Wissen müssen wir uns die Sicherheitssysteme aller deutschen Kernkraftwerke noch einmal genau anschauen und nötigenfalls Konsequenzen ziehen.

Werden Sie auch Nachrüstungen fordern, etwa gegen Terroranschläge und Flugzeugabstürze?

Merkel: Wir werden, unterstützt von unabhängigen Fachleuten, eine umfassende Sicherheitsüberprüfung durchführen, die keinen Aspekt auslässt. Und am Ende werden wir auf der Basis dieser Überprüfungen entscheiden, was entschieden werden muss.

Einige der ältesten Kraftwerke werden für das Moratorium stillgelegt. Glauben Sie, dass die Bevölkerung es zulassen wird, dass sie je wieder ans Netz gehen?

Merkel: Die Menschen sollen wissen, dass ihre Sicherheit für uns absoluten Vorrang hat, das war so und das wird so bleiben - deshalb jetzt nach der einschneidenden Erfahrung von Fukushima diese sorgfältige Neuüberprüfung aller Atomkraftwerke, nicht nur der älteren. Wenn wir die Ergebnisse und die Schlussfolgerungen daraus in aller Transparenz den Bürgern mitteilen, dann, denke ich, werden wir sie damit überzeugen.

Warum verzichten Sie nicht gleich ganz auf die Laufzeitverlängerung und kehren zurück zum vereinbarten Atomausstieg?

Merkel: Es ist Konsens in Deutschland, dass wir aus der Kernenergie aussteigen. Denn auch für Union und FDP ist sie nur eine Brückentechnologie, bis wir das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreicht haben. Die Frage ist nur, wie schnell das geht, und da wünsche ich mir von unseren politischen Wettbewerbern eine ehrlichere Herangehensweise. Der rot-grüne Ausstiegsbeschluss hatte auf diese Frage jedenfalls keine hinreichende Antwort. Wer erneuerbare, umweltfreundliche Energie will, muss auch den Ausbau der dafür nötigen Infrastruktur unterstützen. An dieser Unterstützung hapert es leider an vielen Orten, wo sich zum Beispiel Bürgerinitiativen gegen die notwendigen Stromleitungen wenden, ohne die wir aber nun mal die Windenergie nicht von der Ostsee bis nach Bayern oder Baden-Württemberg transportieren können. Wir brauchen auch dafür einen neuen gesellschaftlichen Konsens. Ich möchte die drei Monate des Moratoriums auch dafür nutzen, in diesen Fragen unserer Energiepolitik einen solchen neuen gesellschaftlichen Konsens anzustreben. Was ich nicht mitmache, sind Scheinlösungen, etwa dass wir hier die Nutzung der Kernenergie beenden, aber dann den Atomstrom aus unseren Nachbarländern kaufen.

Müssen Sie den 2010 geschlossenen Vertrag mit der Energiewirtschaft neu verhandeln?

Merkel: Nach Ende des Moratoriums wird die Lage anders aussehen als vorher. Welche Folgen das hat, werden wir dann sehen.

Welche Auswirkungen hat die Atomdiskussion auf die kommenden Landtagswahlen?

Merkel: Bei den Landtagswahlen geht es wie immer um die Frage, wer die richtigen Rezepte für Wohlstand und Zukunftsfähigkeit dieser Länder hat, wem die Menschen vertrauen. Ich bin überzeugt, dass die christlich-liberale Regierung ihren energiepolitischen Weg gut begründen kann.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Mappus scheint da nervöser zu sein. Er distanziert sich jetzt von sich selbst.

Merkel: Ein Mensch, der jetzt gar nicht zur Kenntnis nähme, was in Japan passiert, und nicht bereit wäre, sich darüber Gedanken zu machen, der wäre ein Ignorant. Erwin Teufel hat immer gesagt: Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität. Und die Realität hat sich am letzten Freitag durch die Ereignisse in Japan verändert. Ein kluger Ministerpräsident wie Stefan Mappus reagiert darauf.

Vor einem Jahr hat Atom-Befürworter Mappus wegen der Laufzeiten den Rücktritt Ihres Umweltministers Röttgen gefordert. War das vielleicht nicht so klug?

Merkel: Die Union ist eine Volkspartei, die die Vielfalt unseres Landes auch politisch widerspiegelt. Da können unterschiedliche Persönlichkeiten schon mal unterschiedliche Akzente setzen. Die Ereignisse in Japan konnte keiner voraussagen, jetzt haben sie diese beiden einander energiepolitisch näher gebracht.

2005 hat Gerhard Schröder Neuwahlen ausgerufen, als das SPD-Kernland Nordrhein-Westfalen verloren ging. Werden Sie das auch tun, wenn die Wahl für die CDU in Baden-Württemberg am 27. März verloren gehen sollte?

Merkel: Diese Frage stellt sich nicht, denn wir haben gute Chancen, dass die christlich-liberale Koalition ihre Arbeit fortsetzen kann. Im Übrigen: Landtagswahlen sind Landtagswahlen und Bundestagswahlen sind Bundestagswahlen.

Im Windschatten der Ereignisse in Japan ist Gaddafi wieder auf dem Vormarsch, bombardiert die Freiheitsbewegung in Libyen. Wie lange kann der Westen zuschauen?

Merkel: Gaddafi führt erbarmungslos Krieg gegen das eigene Volk. Ich habe diesem Mann immer misstraut. Der Westen schaut auch nicht zu, sondern er hat harte politische und wirtschaftliche Sanktionen beschlossen. Wir haben Milliardenwerte auf Gaddafis Konten im Ausland eingefroren, damit zumindest kann er seine Untaten nicht mehr finanzieren. Eine militärische Intervention allerdings sehe ich skeptisch. Als Bundeskanzlerin kann ich uns da nicht in einen Einsatz mit äußerst unsicherem Ende führen.

Wo ist der Punkt erreicht, wo auch Sie sagen würden, man muss eingreifen?

Merkel: Diesen Punkt haben wir bei Afghanistan zum Beispiel sehr klar benannt. Vom Terrorismus, der dort geplant und ausgerüstet wurde, ging eine Bedrohung für uns in Europa aus. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass in Afghanistan auch unsere Sicherheit verteidigt wird. Für ein Eingreifen in Libyen fehlt diese Begründung. Dennoch müssen wir und werden wir weiter auf anderen als militärischen Wegen gegen den Diktator vorgehen.

Das heißt, Voraussetzung ist, dass die Sicherheit Deutschlands aus Libyen bedroht wird?

Merkel: Ich will jetzt keine abschließende Aufzählung möglicher Voraussetzungen machen. Ein Mandat der Vereinten Nationen wäre eine Mindestvoraussetzung, ebenso die aktive Beteiligung der Arabischen Liga. Nichts davon liegt derzeit vor.

Ist ein Alleingang Frankreichs und Englands vorstellbar?

Merkel: Alle Nato-Partner sind der Meinung, dass in jedem Fall eine klare rechtliche Grundlage erforderlich ist. Auch Frankreich und Großbritannien wollen also keinen Alleingang. Aber selbst wenn ein Mandat des Uno-Sicherheitsrates vorliegt, bedeutet das immer noch nicht, dass Deutschland sich daran beteiligt.

Ist der Aufschwung in Deutschland robust genug, um zwei große Krisen, die in Nordafrika und die in Japan, zu verkraften?

Merkel: Er ist glücklicherweise robust, von unseren Exporterfolgen ebenso getragen wie vom ansteigenden Konsum in Deutschland. Dennoch bedeuten diese beiden Krisen eine gewisse Belastung, die wir noch nicht ganz absehen können. Ich habe über mögliche wirtschaftliche Auswirkungen mit Nicolas Sarkozy gesprochen, der den G-20-Staaten derzeit vorsteht. Dort werden wir über die Lage reden. Die Weltsituation hat sich eindeutig nicht vereinfacht. Für Deutschland bleibe ich aber optimistisch.

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