Interview Christine Lambrecht „Keine allgemeine Impfpflicht – ohne Wenn und Aber“

Berlin · Für die Justizministerin hat sich der Föderalismus in der Krise bewährt. Es sei richtig, bei unterschiedlichen Infektionszahlen regionale Unterschiede zu machen.

 Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) will im Herbst ihre politische Karriere beenden.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) will im Herbst ihre politische Karriere beenden.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) kandidiert im Herbst nicht erneut für den Bundestag. Unser Berliner Korrespondent Werner Kolhoff sprach mit der 55-jährigen Hessin über Rechtspolitik in Corona-Zeiten – und was sie bis zum Ende der Legislaturperiode noch durchsetzen will.

Reicht das Infektionsschutzgesetz als Legitimationsbasis für die massiven Grundrechtseinschränkungen? Viele Menschen sagen, das sei Willkür.

LAMBRECHT In unserem Rechtsstaat muss der Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen treffen. Das ist geschehen. Der Bundestag hat das Infektionsschutzgesetz erst im November novelliert, nach langer Diskussion. Das Wesentliche ist damit vom Parlament geregelt worden. Die konkrete Ausgestaltung kann dann auch durch Verordnungen geregelt werden, für die im Gesetz ein Rahmen abgesteckt ist.

Wäre es trotzdem für die Akzeptanz nicht besser, wenn die Parlamente über jede Fortsetzung des Lockdowns jeweils neu beschließen müssten, im Bund wie in den Ländern?

LAMBRECHT Es ist ja nicht so, das alles sofort umgesetzt wird, was die Ministerpräsidenten zusammen mit der Kanzlerin beschließen. Die Länderchefs gehen damit in ihre Kabinette und oft auch in die Landtage, und auch im Bundestag wird darüber debattiert.

Gibt es irgendetwas, was Sie im Rechtssystem nach dieser Pandemie verändern würden? Zum Beispiel an der Verteilung der Zuständigkeit zwischen Bund und Ländern?

LAMBRECHT Sicher wäre mehr Einheitlichkeit in dem einen oder anderen Bereich besser gewesen, etwa an den Schulen. Grundsätzlich ist es bei unterschiedlichen Infektionszahlen aber richtig, regionale Unterschiede zu berücksichtigen und Flexibilität zu ermöglichen. Dass wir ein föderaler Staat sind, hat sich in der Krise sehr bewährt.

Steht das Versprechen der Bundesregierung noch, dass es keine allgemeine Impfpflicht gibt?

LAMBRECHT Diese Aussage steht, ohne Wenn und Aber.

Sollte es aus Ihrer Sicht aber eine Impfflicht für sensible Berufe geben, allen voran für Kranken- und Altenpfleger?

LAMBRECHT Keine Impfpflicht bedeutet: keine Impfpflicht. Ich bin davon überzeugt: Je besser wir über die Impfung aufklären und je mehr Menschen sich freiwillig impfen lassen, desto zahlreicher werden ihnen andere nachfolgen, um sich und ihre Mitmenschen vor einer Corona-Infektion zu schützen.

Ihr Parteifreund Heiko Maas hat gefordert, Geimpften wieder mehr Freiheiten zu geben. Gehen Sie da mit?

LAMBRECHT Voraussetzung hierfür wäre der sichere wissenschaftliche Nachweis, dass Geimpfte die Infektion nicht weitertragen können und damit eine Gefährdung Dritter durch sie ausgeschlossen ist. Dieser Nachweis wurde bislang nicht geführt. Ganz grundsätzlich gilt: Wenn wir Grundrechte einschränken müssen, brauchen wir dafür sehr gute Gründe. Nur solange sie vorliegen, sind die Einschränkungen gerechtfertigt.

Wenn zahlreiche Unternehmen wie Fluggesellschaften, Hotels oder auch Gaststätten so handeln, kommt dann nicht die allgemeine Impfpflicht durch die Hintertür?

LAMBRECHT Das ist im Moment eine sehr theoretische Diskussion. Es gibt bisher nur wenige Geimpfte, so dass solche Unterscheidungen wirtschaftlich unattraktiv wären. Und je mehr Menschen geimpft werden, desto schneller können wir alle zur Normalität zurückkehren.

Um den Rasse-Begriff im Grundgesetz ist eine Diskussion entbrannt. Würden Sie ihn entfernen wollen?

LAMBRECHT Ich möchte den Begriff nicht einfach streichen, sondern durch eine bessere Formulierung ersetzen. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wollten das klare Signal setzen: nie wieder Rassismus. Das ist unsere Verpflichtung.

Wie wird Ihr Vorschlag lauten? Jetzt heißt es ja in Artikel 3 unter anderem, dass niemand „wegen seiner Rasse“ benachteiligt werden dürfe.

LAMBRECHT Ein Vorschlag wäre zu formulieren, dass niemand „aus rassistischen Gründen“ benachteiligt werden darf. Das schützt vor rassistischer Diskriminierung und sorgt dafür, dass das Grundgesetz nicht mehr als Beweis für die angebliche Existenz von Rassen missbraucht werden kann.

Kanzleramtsminister Braun hat eine Aufweichung der Schuldenbremse im Grundgesetz ins Spiel gebracht. Wie stehen Sie dazu?

LAMBRECHT Das Grundgesetz gibt uns bereits jetzt die Möglichkeit, die Schuldenbremse in außergewöhnlichen Notsituationen zeitlich befristet auszusetzen. Hiervon haben wir in diesem und im vergangenen Jahr Gebrauch gemacht, um die Handlungsfähigkeit des Staates bei der Krisenbewältigung zu sichern. Dies gibt uns den finanziellen Spielraum, um den Menschen und der Wirtschaft in der Pandemie zu helfen. Für eine Grundgesetzänderung wären hohe Hürden zu nehmen. Sie setzt einen breiten parteiübergreifenden Konsens voraus, den ich aktuell nicht sehe. Ich stimme mit dem Kanzleramtsminister aber überein, dass der Staat handlungsfähig sein muss. Kürzungen von Sozialleistungen oder Einsparungen bei Investitionen wären ein absolut falscher Weg.

Sie beenden Ihre politische Karriere mit der Bundestagswahl. Was wollen Sie als Justizministerin bis dahin noch erledigen?

LAMBRECHT Sehr wichtig ist mir eine Neuregelung für faire Verträge, damit Verbraucherinnen und Verbraucher nicht mehr am Telefon abgezockt werden können. Wir müssen auch dafür sorgen, dass Hinweisgeber auf Missstände, also Whistleblower, besser geschützt sind. Und damit ehrliche Unternehmen nicht die Dummen sind, muss unser Gesetz zu Unternehmens-sanktionen noch im Bundestag beschlossen werden. Für mehr Transparenz in der Gesetzgebung wollen wir außerdem ein wirksames Lobbyregister einführen. Es ist also noch einiges zu tun und ich werde alles daran setzen, dass von den rechtspolitischen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag so wenig wie irgend möglich unerledigt bleibt.

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