Juden in Deutschland – Leben mit der Angst „Bleiben wir? Sind wir sicher?“

Berlin · Nicht erst seit dem Angriff auf die Synagoge in Halle leben Juden in Deutschland mit der Furcht vor antisemitischen Angriffen. Tatenlos wollen sie der Entwicklung aber nicht zusehen.

Es sei alles wie immer, sagt Mike Delberg am Tag nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle/Saale. Als er am Donnerstagmorgen an seiner Berliner Synagoge vorbeifährt, stellt Delberg fest, dass wieder nur zwei Polizisten davorstehen. Nach einer kurzzeitigen Verstärkung am Vorabend ist wieder Bewachungsroutine vor dem Gotteshaus eingekehrt. Delberg, 30 Jahre alt und Berliner Jude, fällt so etwas auf.

Und doch ist nicht alles wie immer: Delberg spricht nach den Morden von Halle von einem „neuen Kapitel“ in der langen Geschichte des Antisemitismus in Deutschland. „Niederschmetternd“, sagt er. „Wir haben immer davon gesprochen, dass die Zustände in Deutschland nicht so schlimm sind wie in Frankreich oder Belgien. Seit gestern sind sie das.“

Dass jemand mit einem Sturmgewehr bewaffnet und in der Kleidung eines Elitesoldaten versucht, in eine Synagoge einzudringen, habe es bisher hier nicht gegeben. Delberg spricht von „einer Schande“, dass die Polizei in Halle die Synagoge selbst an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, unbewacht gelassen habe. In der Synagoge waren mehr als 50 Menschen.

Und wieder taucht das Bild von den „gepackten Koffern“ auf, eine Redensart, die die Juden in Deutschland seit 1933 begleitet. Nein, die Koffer habe er noch nicht gepackt, sagt Levi Salomon, der 1991 als einer von Zehntausenden Juden aus der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik auswanderte. Er habe sich damals entschieden, nicht nach Israel auszuwandern, sondern nach Deutschland. Die Bundesrepublik habe er als Land kennengelernt, das die Freiheit liebe. „Das wird jetzt offenbar vergessen“, sagt Salomon, der in Berlin das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus mitgründete und die Angriffe dokumentiert. Ob Sonntagsreden zum deutsch-jüdischen Zusammenleben, das Bekenntnis der Bundesregierung zum Existenzrecht Israels oder Klezmerkonzerte – Symbole reichen den rund 100 000 Juden in Deutschland nicht mehr, um sich in diesem Land sicher zu fühlen. „Es muss mehr geschehen“, sagt der Brandenburger Landesrabbiner Nachum Presman. Ein größerer Schutz jüdischer Einrichtungen sei notwendig.

In Düsseldorf, wo mit fast 7000 Mitgliedern Deutschlands drittgrößte jüdische Gemeinde lebt, gehört der Polizeischutz zum Alltag. Polizisten stehen seit einem Brandanschlag auf die Synagoge im Oktober 2000 jeden Tag ohne Ausnahme vor dem Gebetshaus. Poller wurden in den Boden gelassen, um Auto-Anschläge zu verhindern. Über dem Eingang aber steht in himmelblauer Schrift: „Willkommen“. Die Düsseldorfer Juden hatten sich zu Jom Kippur in ihrer Synagoge versammelt. Noch während des Gebets habe es Unruhe gegeben, erzählt Paola Cohen. Die ersten Nachrichten über den Anschlag in Halle machten die Runde. Unterschwellig gebe es immer eine Diskussion: „Bleiben wir? Sind wir sicher?“, sagt Cohen. Das Attentat in Halle habe diese Gedanken nun wieder verstärkt.

„Ich lasse mir mein Judentum nicht von Antisemiten nehmen“, sagt Mike Delberg, der dem Parlament der Gemeinde in Berlin angehört und CDU-Mitglied ist. Wenn Delberg das sagt, klingt er nicht trotzig, sondern bestimmt. Er will in Deutschland als Jude leben können – so und nicht anders. Seit einigen Monaten trägt er für jeden sichtbar eine Kippa als Kopfbedeckung. Er wolle damit deutlich machen, „dass Juden ganz normal zur Gesellschaft gehören“. Sonst würden Juden als Opfer wahrgenommen – in TV-Dokumentationen über Antisemitismus oder dem Holocaust.

Nach einer Ende 2018 veröffentlichten Umfrage im Auftrag der EU-Grundrechteagentur fühlen sich Juden in Deutschland deutlich häufiger angefeindet als in anderen EU-Staaten. 41 Prozent der Befragten in Deutschland gaben dabei an, im zurückliegenden Jahr Opfer einer Belästigung geworden zu sein, die gegen sie als Juden gerichtet war. Im EU-Durchschnitt lag der Wert bei 28 Prozent. Drei Viertel der Juden in Deutschland verzichtete demnach auf das Tragen jüdischer Symbole in der Öffentlichkeit, wie etwa der Kippa. Das bestätigt Gideon Joffe. Der Davidstern sei aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil viele Juden Angst vor Angriffen hätten, sagt der Berliner Gemeindevorsitzende. „Deutschland trägt Davidstern“ – eine solche Aktion, bei der möglichst viele Bürger das Symbol des Judentums tagtäglich offen an einer Kette tragen, „wäre ein wunderbares Zeichen der Ermutigung für uns Juden – und der Entmutigung der Antisemiten“. Denn vom muslimischen Antisemitismus bis zur linken „Israelkritik“ und den Rechten – die Judenfeindlichkeit habe mittlerweile breite Teile der Gesellschaft ergriffen, sagt Joffe. Die Juden wollten der Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Es gebe zwar bei einigen Resignation, bei vielen aber auch eine deutliche Kampfbereitschaft.

Levi Salomon vom Jüdischen Forum will seine Sachen noch lange nicht packen, auch weil seine Söhne in Deutschland aufgewachsen sind. „Aber die Koffer habe ich immer im Blick.“

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