Friedliche Revolution vor 30 Jahren in Leipzig Der Triumph der Gewaltlosigkeit

Leipzig · Die Montagsdemos in Leipzig gelten als Wegbereiter für die friedliche Revolution in der DDR. Als vor 30 Jahren, am 9. Oktober 1989, rund 70 000 Menschen auf die Straße gingen, markierte dies einen Wendepunkt.

 Historischer Tag: Demonstranten tragen am 9. Oktober 1989 ein Transparent mit der Aufschrift „Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!“ durch die Leipziger Innenstadt.

Historischer Tag: Demonstranten tragen am 9. Oktober 1989 ein Transparent mit der Aufschrift „Wir wollen keine Gewalt! Wir wollen Veränderungen!“ durch die Leipziger Innenstadt.

Foto: dpa/-

(dpa) Am 9. Oktober 1989 fahren Siegbert Schefke und Aram Radomski mit einem Trabant von Berlin nach Leipzig. Im Gepäck haben sie Videokamera und Fotoapparat. Ihr Ziel: die Montagsdemonstration, die nicht erlaubt ist, die es aber sehr wahrscheinlich geben wird. Was die beiden Männer an diesem Abend dokumentieren, verändert die DDR und Deutschland. „Der 9. Oktober war der entscheidende Tag, der den Durchbruch der friedlichen Revolution gebracht hat“, sagt der frühere Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, der Historiker Rainer Eckert. 70 000 Menschen ziehen an diesem Abend in Leipzig über den Ring, der die Innenstadt umschließt. Sie kommen einmal rum, ohne dass die Staatsmacht Gewalt anwendet. „Danach war klar, dass die Diktatur nicht mehr so weiterarbeiten konnte“, sagt Eckert. Es wird nur noch ein Monat vergehen, bis in Berlin die Mauer fällt.

Dass der 9. Oktober 1989 ein friedliches Ende nehmen würde, war alles andere als ausgemacht. Schefke und Radomski sehen auf der Autobahn eine lange Lkw-Kolonne. Auf den Ladeflächen hocken Polizisten oder Soldaten, wie sich Schefke erinnert. Mehr als 6000 bewaffnete Kräfte werden in Leipzig zusammengezogen. „Natürlich hatten wir Angst“, sagt der heute 60-Jährige. Der Angst stehen aber der Mut und die Entschlossenheit der vielen Menschen gegenüber. Während Schefke und Radomski am Nachmittag nach einem geeigneten Ort für ihre heimlichen Aufnahmen suchen, herrscht auch andernorts in Leipzig Betrieb­samkeit. In vier Kirchen der Stadt werden Friedensgebete vorbereitet. Dort kursieren Flugblätter mit dem Aufruf: „Keine Gewalt!“. In den Kirchen seien viele Stasi-Leute gewesen, berichtet Eckert. Hunderte hätten die Kirchenbänke auf Geheiß der SED-Führung im Leipziger Rathaus frühzeitig besetzt. „Die saßen da, die anderen standen draußen – und waren noch eher bereit, zu demonstrieren“, sagt der Historiker.

Auch im Haus des Gewandhauskapellmeisters Kurt Masur wird unter Anspannung gearbeitet. Der international bekannte Dirigent, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, ein Theologe und drei Sekretäre der SED-Bezirksleitung haben sich zusammengefunden, um einen Aufruf zur Besonnenheit zu verfassen. Dieser „Aufruf der Leipziger Sechs“ wird am Abend über fest installierte Lautsprecheranlagen im Stadtzentrum übertragen.

Rückblickend sieht es so aus, als habe sich an jenem 9. Oktober ein Puzzleteil zum nächsten gefügt. Doch warum eigentlich Leipzig? Schefke, der ebenso wie Bernd-Lutz Lange ein Buch zur damaligen Zeit herausgebracht hat, sagt, die Leipziger hätten den Protest auf die Straße bringen wollen. Er habe das Gefühl gehabt: „Wenn etwas in der DDR passieren würde, dann in Leipzig“, schreibt er in seinem Buch „Als die Angst die Seite wechselte. Die Macht der verbotenen Bilder“.

Lange macht in seinen Erinnerungen („David gegen Goliath“) den bedauernswerten Zustand der Stadt mitverantwortlich: „Leipzig war in den Jahrhunderten immer eine stolze Bürgerstadt gewesen. Nach vierzig Jahren DDR wohnten die Menschen in Häusern, deren Fassaden verfielen und durch deren Dächer es vielerorts hereinregnete.“

Die SED-Führung ist am 9. Oktober 1989 eigentlich entschlossen, gewaltsam gegen die Demonstranten vorzugehen. Aus Berlin gibt es den Auftrag, die sogenannte Staatsfeindlichkeit ein für alle Mal zu beenden. Das Kommando führt in Leipzig an diesem Tag Helmut Hackenberg, ein orthodoxer Funktionär. Er versucht, in Berlin Egon Krenz zu erreichen, um Anweisungen zu erhalten. Krenz, damals zweiter Mann hinter Staatschef Erich Honecker, verspricht, zurückzurufen – tut es aber nicht. Die Leipziger SED-Leitung entscheidet sich gegen aktives Handeln. 

Schefke und Radomski filmen vom Turm der Reformierten Kirche herab, der Pfarrer hat sie hineingelassen. Ihre Aufnahmen fahren sie noch am Abend nach Berlin und übergeben sie einem westdeutschen Journalisten. Am Tag danach werden sie in den „Tagesthemen“ ausgestrahlt. Sprecher Hanns Joachim Friedrichs moderiert sie an als „unglaubliche Bilder aus Leipzig“. Nach dem 9. Oktober überschlagen sich in der DDR die Ereignisse. SED-Chef Honecker tritt zurück, Krenz tritt seine Nachfolge an. Auch das Politbüro gibt auf. Am 9. November fällt in Berlin die Mauer.

Leipzig erinnert jedes Jahr mit dem Lichtfest an den 9. Oktober 1989. Im Gewandhaus ist zudem ein Festakt mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier geplant.

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