Stimmung im EU-Grenzgebiet Wenn die App vor Unwettern und Bomben warnt

Wie sehr das Bewusstsein mit dem Sein verbunden ist, wird besonders deutlich, wenn der Blick auf den Krieg gegen die Ukraine nicht aus Tausenden Kilometern Entfernung erfolgt, sondern aus einem EU-Land und einem EU-Beitrittskandidaten mit unmittelbarer Betroffenheit. Beobachtungen in Rumänien und Moldau.

Ein Fahrzeug mit dem Emblem der EU-Grenzassistenzmission Eubam steht auf ukrainischem Territorium vor dem Grenzübergang Reni-Giurgiulesti zwischen Moldau und der Ukraine.

Foto: Gregor Mayntz

Der Blick auf den russischen Krieg gegen die Ukraine scheint im Herzen der EU, in Düsseldorf, Paris, Brüssel und Rom, vor allem von einem Umstand geprägt zu sein: Er ist 2000 Kilometer weit weg. Hier, am Ufer der Donau, in dem kleinen Örtchen Isaccea des EU-Landes Rumänien, ist alles anders. Gemächlich zieht der mächtige Strom an den Lkw-Fahrern vorbei, die gerade mit einer Fähre übergesetzt haben. Sie kommen nur von der anderen Flussseite. Aber dort ist Krieg, dort ist die Ukraine. 800 Meter trennen die Anlegestelle am EU-Ufer von der im Kriegsland. Die Atmosphäre ist Mitte September geprägt von entspannter Gelassenheit. Grenzpolizisten und Zöllner prüfen Papiere, identifizieren Einreisende, kontrollieren die Container mit Durchleuchtungsgeräten und per Augenschein. Doch alle wissen: Die Ruhe kann sich hier jederzeit ändern.

Jeder Rumäne hat in dieser Region eine Katastrophen-App auf seinem Smartphone, wie sie auch in Mitteleuropa vor Unwettern warnt. Doch in dem rumänischen Erdbebengebiet kommt der Erdbebenalarm dazu. Und die Warnung vor Luftangriffen. Ziele russischer Angriffe liegen auch im ukrainischen EU-Grenzgebiet. Und immer wieder landen Trümmer abgeschossener Raketen oder Kampfdrohnen auch in der EU. So heißt es denn nicht nur für Ukrainer, Schutz in Bunkern zu suchen, sondern auch für EU-Bürger, die Häuser besser nicht zu verlassen, bis feststeht, dass die Bomben dieses Mal woanders gefallen sind. Oder das Verteidigungsministerium in Rumänien festgestellt hat, dass Moskau wieder man nur einen Test unternahm, auf welche Art und wie schnell die Nato auf anfliegende Drohnen reagiert.

Das prägt. „Für uns hat absolute Priorität, dass sich die Ukraine wehren kann“, unterstreicht der rumänische Premierminister Marcel Ciolacu. „Diktatur oder Demokratie“. So lautet für ihn die Alternative. Dringend rät er davon ab, Putin in irgendeiner Weise zu trauen. „Das schlimmste Szenario für Europa und die ganze Welt wäre es, wenn er den Krieg gewinnt“, sagt er mit Verweis auf das von Rumänien gelieferte Luftabwehrsystem. Offiziell gibt man sich in Rumänien zuversichtlich, dass es der Ukraine mit massiver westlicher Hilfe gelingen kann, sich der Angriffe immer besser zu erwehren. Doch in rumänischen Denkfabriken überwiegt die Skepsis, werden Karten gezeichnet, wie die Bedingungen für einen Waffenstillstand aussehen könnten und was das für die Region bedeutet.

Die Halbierung der deutschen Ukraine-Unterstützung wird als verheerendes Signal gewertet. Das gilt auch für die Berliner Linie, der Ukraine jede Attacke auf solche Militärziele in Russland zu untersagen, von denen die Angriffe gegen die Ukrainische Zivilbevölkerung, gegen Schulen, Krankenhäuser, Einkaufszentren und die Energieversorgung gestartet werden. Alle haben die Bilder von den ersten Tage und Wochen des Krieges vor Augen, als Millionen Ukrainer Schutz im Westen suchten. Wenn es Putin gelinge, die Ukrainer in diesem Winter von Wärme und Wasser abzuschneiden, könne es ähnliche Bilder geben.

Doch es kommt neben dem Mangel an Präzisionswaffen, Luftabwehrsystemen und Munition für die Ukraine ein weiterer Umstand hinzu: Ihr drohen die Soldaten auszugehen. In den letzten sechs Monaten haben die rumänischen Grenzbeamten allein in diesem Abschnitt bei Isaceea 80 ukrainische Männer zwischen 18 und 65 Jahren festgestellt, die vor ihrer Einberufung geflohen sind. Im Nachbarland Moldau mit seiner noch sehr viel größeren Grenze zur Ukraine lautet die Statistik des Innenministeriums, dass seit Kriegsbeginn 6000 wehrpflichtige Ukrainer an der Grenze und 20.000 weitere im Landesinneren gestoppt wurden. Der weitere Umgang Moldaus mit den Schutzsuchenden folgt laut Innenminister Adrian Efros dem „Prinzip der Nichtrückkehr“. Es gibt in Rumänien eine interne Faustformel, nach der die Ukraine derzeit jede Woche ein Bataillon durch Vernichtung und ein weiteres durch Flucht verliert.

Sowohl in Moldau als auch in Rumänien sind Behörden, Firmen, Organisationen und viele mehr umso intensiver bemüht, der Ukraine auf so vielen Feldern wie möglich beizustehen. Die Solidaritätskorridore, entstanden, um die russische Blockade der ukrainischen Handelsrouten zu umgehen, haben die Infrastruktur in beiden Ländern enorm verändert. Da ist etwa der Hafen von Constanta am Schwarzen Meer. Binnen weniger Wochen haben die Betreiber die Kapazitäten glatt verdoppelt. Die Digitalisierung hängt zwar noch, aber die Automatisierung hat dazu beigetragen, dass nun nach dem Anlanden ukrainischer Getreidefrachter alle 30 Sekunden ein 20-Tonnen-Lkw die weitere Verteilung starten kann. EU-Gelder haben ebenfalls bewirkt, dass mehr Schiffe die Donau nutzen können. Auf dem Höhepunkt der Krise stauten sich Dutzende ukrainischer Schiffe, bevor sie in sichere Regionen fahren konnten.

Ähnlich ist es an der ukrainisch-moldauischen Landgrenze. Reni-Giurgiulesti heißt der Übergang, der bereits auf ukrainischem Staatsgebiet liegt. Die Republik Moldau ist an dieser Stelle so schmal, dass knapp zwei Kilometer von der Ukraine entfernt bereits die Grenze zu Rumänien folgt. Vor dem Krieg schien das kein Problem zu sein. 1979 angelegt, sollte der Grenzübergang eine sinnvolle Landverbindung vom ukrainischen Odessa ins rumänische Constanta bringen. Doch mit Kriegsbeginn steigerte sich der Druck, auch an dieser Stelle schnellstmöglich lebenswichtige Güter in die Ukraine und ukrainische Waren in die EU zu bringen. Das Ergebnis waren schier endlose Lkw-Schlangen, deren Fahrer bis zu zwei Wochen auf den Grenzübertritt warten mussten - mit den entsprechenden hygienischen Begleiterscheinungen entlang einer menschenleeren Landstraße. Die EU-Grenzassistenzmission Eubam brachte alle regionalen Grenzkontrollbehörden an einen Tisch und erreichte bereits Fortschritte. So arbeiten nun moldauische und ukrainische Grenzbeamte Seite an Seite, um eine Kontrolle einzusparen. Zudem bekommen ukrainische Lkw-Transporte einen virtuellen Warteplatz und müssen erst zur Grenze selbst fahren, wenn ihr Slot an der Reihe ist. Auch das Zollsystem ist vereinfacht, wird von der Ukraine bereits für ganz Europa genutzt, muss freilich in Moldau noch von der Testphase in den Dauerbetrieb wechseln.

Wie präsent der Krieg aber auch hier ist, belegen die Uniformen der Grenzschützer: Die Moldauer sind Polizisten, die Ukraine Soldaten. Eine weitere Trennung erfolgt bei Luftalarm. Moldauer haben sich dann in ihrem Land in Sicherheit zu bringen, Ukrainer in ihrem. Es ist ein bizarres Gefühl, dass die scheinbar friedlich-nervigen peniblen Grenzkontrollen an diesem Ort jederzeit in pure Todesangst und Überlebenshoffnung umschlagen können.

In Moldau, jenem schmalen Landstreifen zwischen Rumänien und der Ukraine, herrscht aktuell ein Gefühl der Sicherheit - dank der massiven Ukraine-Unterstützung. Die russische Fehlinformationsmaschinerie arbeitet zwar auf Hochtouren, um das für Oktober mit den Präsidentenwahlen geplante Referendum über den EU-Beitritt zu torpedieren. Doch die im abtrünnigen Gebiet Transnistrien stationierten russischen Militärs sind nicht so stark, dass sich Moldau akut bedroht fühlen muss. Das würde sich schlagartig ändern, wenn es den russischen Angreifern gelänge, Odessa und angrenzende Gebiete zu erobern, wie sie es zeitweise versuchten. Dann gäbe es eine Verbindung des russischen Nachschubes direkt nach Transnistrien und Moldau wäre mit seiner gerade einmal 10.000 Militärs zählenden Armee eine leichte Beute.

Am Bahnhof von Chisinau steht ein Denkmal, das an die Opfer sowjetischer Herrschaft bis zur Unabhängigkeit Moldaus beim Zerfall der Sowjetunion 1991 erinnert, insbesondere an die Deportationen. Die gibt es zwar, anders als bei der Entführung Tausender von Kindern aus der Ukraine nach Russland, in Moldau nicht. Doch eine heimische Wochenzeitung hat gerade aufgedeckt, wie in Moldau Familien gelockt werden, ihre Kinder in „Ferienlager“ nach Russland zu schicken. Zurück kämen sie mit mehr oder weniger erfolgreicher Gehirnwäsche. Noch versucht Putin, sich den Zugriff auf diese Weise sowie mit bezahlten Protesten und gigantischen Desinformationskampagnen und nicht mit Waffengewalt zu sichern. Doch jeder weiß, was aus dem EU-Beitrittskandidaten wird, wenn die Ukraine verliert.