Analyse: Eklat um Ministerpräsidenten-Wahl Der Thüringer Tsunami wirkt noch immer nach

Berlin · Vor einem Jahr wurde FDP-Mann Thomas Kemmerich durch Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt – mit weitreichenden Folgen.

  Thomas Kemmerich (FDP) trat drei Tage nach seinem Wahlsieg in Thüringen als Ministerpräsident zurück.

Thomas Kemmerich (FDP) trat drei Tage nach seinem Wahlsieg in Thüringen als Ministerpräsident zurück.

Foto: dpa/Michael Reichel

Vor genau einem Jahr landete vor den Füßen des frisch gewählten Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich ein Blumenstrauß, hingeschmissen von der empörten Linken Susanne Hennig-Wellsow. Eine Szene aus dem Thüringer Landtag, die Geschichte schrieb. Danach fegte vom Freistaat aus ein politischer Tsunami übers Land, der in Berlin einen Parteivorsitzenden ins Wanken und eine Parteichefin zu Fall brachte. Die Nachwirkungen des Thüringer Eklats sind auch heute noch zu spüren.

Zwölf Monate ist es her, dass Kemmerich zu einem der bekanntesten Politiker Deutschlands wurde. Ausgerechnet er, der Chef der kleinen Thüringer FDP, die wenige Wochen zuvor mit genau fünf Prozent den Einzug in das Parlament hauchdünn geschafft hatte. Der heute 55-Jährige ließ sich mit den Stimmen von CDU, FDP und der AfD zum Ministerpräsidenten wählen. Ein Tabubruch.

Kemmerich war nach eigenem Bekunden damals „als bürgerliche Alternative“ zum Linken-Regierungschef Bodo Ramelow angetreten, dessen rot-rot-grünes Bündnis nach der Wahl keine Mehrheit mehr hatte. Ob er mit Kalkül oder mit Naivität das Risiko einging, von den Abgeordneten des Rechtsauslegers Björn Höcke gewählt zu werden, ist bis heute ein Rätsel. Jedenfalls nahm er die Wahl an. Der Skandal war da. Drei Tage später trat er unter dem Druck der Bundespolitik und von Demonstrationen auf der Straße wieder zurück. Selbst die Kanzlerin hatte sich von einer Auslandsreise zu Wort gemeldet. Kemmerich ist darüber bis heute verbittert, in der Bundes-FDP gilt er als unbelehrbar.

„Das Fiasko von Thüringen“, nannte Parteichef Christian Lindner die Kemmerich-Wahl später, die ihn damals selbst an den Rand des Rücktritts gebracht hatte. Direkt danach hatte Lindner seinem Parteifreund nämlich artig gratuliert, um dann aber angesichts der Protestwelle nach Erfurt zu reisen. Er wollte retten, was nicht mehr zu retten war. Spricht man heute mit Liberalen, so werden meist drei schwere Fehler angeführt, die Lindner seit dem Wiedereinzug der FDP in den Bundestag 2017 begangen habe: Die Jamaika-Verhandlungen scheitern zu lassen, sein arroganter Umgang mit den Jugendlichen der „Fridays for Future“-Bewegung und sein Zick-Zack-Kurs in Thüringen. Drei Klötze, die am Bein des Oberliberalen hängen. Kemmerich ist einer davon.

Die Frage der Abgrenzung nach rechts wird der FDP daher nach wie vor gestellt. Gleiches gilt aber auch für die Union. Denn noch härter traf es die damalige CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karenbauer. Auch sie reiste nach Erfurt, um die Landespartei wegen ihrer Kooperation mit der AfD auf Kurs zu bringen. Denn die Beschlusslage der CDU schließt jedwede Zusammenarbeit mit den Rechtspopulisten aus. Doch AKK blitzte ab, der Autoritätsverlust war so groß, dass sie fünf Tage nach dem Eklat ihren Rückzug von der Parteispitze erklärte.

Bis heute gilt Thüringen in der CDU als Sündenfall, als Menetekel dafür, dass die Union im Osten gänzlich anders tickt. Der Umgang mit der AfD dort wird auch den neuen Vorsitzenden Armin Laschet in Atem halten; ebenso die Frage, wie er nach rechts abgewanderte Wähler zurückgewinnen will. Die Schwere der Aufgabe könnte Laschet bereits im Juni zu spüren bekommen, wenn in Sachsen-Anhalt gewählt wird. Auch dort sind die Rechten stark.

Die Linke, die damals eine gute Figur machte, muss jetzt aber bei den Neuwahlen im September um ihren einzigen Ministerpräsidenten bangen. Denn Bodo Ramelow redet sich immer mal wieder um Kopf und Kragen. So erst kürzlich, als er aus den Corona-Beratungen der Kanzlerin plauderte. Das große Zittern könnte sich für die Linke deshalb im Herbst wiederholen – wie schon vor einem Jahr.

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