Corona im Sommer Warum die Inzidenzwerte weiterhin wichtig bleiben

Berlin · Die Corona-Lage in Deutschland entspannt sich weiter, die Zahlen der Geimpften steigen kontinuierlich an. Trotzdem halten Fachleute weiter an den Inzidenzen als Richtschnur fest - aus ganz unterschiedlichen Gründen. Mit der ansteckenderen Delta-Variante kommt ein neuer Unsicherheitsfaktor hinzu.

 Trotz sinkender Infektionszahlen und steigende Impfquote halten Experten an den Inzidenzen zur Bewertung der Corona-Lage fest.

Trotz sinkender Infektionszahlen und steigende Impfquote halten Experten an den Inzidenzen zur Bewertung der Corona-Lage fest.

Foto: dpa/Oliver Berg

Sinkende Infektionszahlen und steigende Impfquote: Es stellt sich die Frage, ob die Inzidenzwerte noch der richtige Maßstab zur Bewertung der epidemischen Lage sind. Bisher dient diese Kennzahl, die die Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen anzeigt, als Bemessungsgrundlage aller politischen Maßnahmen zur Einschränkung, aber auch zur Lockerung. Gesundheitsexperten und -politiker halten weiterhin an dem Wert fest - aus ganz unterschiedlichen Gründen.

Ulrike Teichert, die Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD), argumentiert mit der Akzeptanz in der Breite der Bevölkerung. „Wir sollten trotz der steigenden Impfzahlen und der daraus resultierenden milden Verläufe weiter auf die Inzidenzzahlen schauen – nicht, weil dies das beste Maß zur Erfassung der Infektionsdynamik und der Pandemierisiken ist, sondern weil es das etablierte Maß ist, das die Menschen kennen und verstehen. Bitte kein neues Begriffschaos und bitte keine neue Verwirrung“, betonte Teichert. Nach den Worten des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach gibt die Inzidenz einen guten Überblick über die Zahlen der Infizierten und sollte daher der Maßstab bleiben. „Zusätzlich aber müssen weitere Indikatoren wie die Sterblichkeit, schwere Verläufe und Long Covid mitgedacht werden“, so Lauterbach.

Auch der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), Christian Karagiannidis, plädiert dafür, andere Marker wie die Intensivneuaufnahmen stärker zu berücksichtigen. Im bisherigen Pandemieverlauf sei die Entwicklung der Intensivaufnahmen weitgehend parallel zu den Inzidenzen verlaufen. Jedoch könne es im Laufe dieses Jahres zu einer Entkoppelung der beiden Parameter kommen, sagte Karagiannidis. Der Intensivmediziner erklärt das mit dem Impffortschritt bei besonders gefährdeten Menschen. Wenn im Herbst die Infektionszahlen wieder steigen, die vulnerablen Gruppen bis dahin aber sehr gut geimpft seien, „könnte es auch bei höheren Inzidenzen viel weniger schwere Verläufe geben“, sagte Karagiannidis. Generell aber bleibe der Inzidenzwert wichtig, weil er „die Infektionsdynamik sehr gut widerspiegelt“.

Diese nimmt kontinuierlich ab. Am Sonntag lag die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz nach RKI-Angaben bei 8,8 (Vorwoche: 17,3). Die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivstationen sank am Wochenende unter 1000 - das ist der niedrigste Wert seit Oktober. Die Impfquote der vollständig Geimpften lag am Samstag laut RKI bei 30,4 Prozent (25,4 Millionen Menschen); bei den Erstimpfungen betrug sie bereits 50,6 Prozent (42 Millionen). Trotz der Entspannung aber wächst die Sorge vor der Delta-Virusvariante. Unter Experten gilt es als weitgehend unbestritten, dass diese ansteckendere Variante sich in Deutschland durchsetzen wird. Fraglich ist nur, bis wann. Der Berliner Virologe Christian Drosten sieht Deutschland mittlerweile „im Rennen“ mit der Delta-Variante. „Wir müssen das ab jetzt wirklich ernst nehmen“, sagte Drosten am Freitag.

Auch für SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach steht fest, dass Delta sich durchsetzen wird. „Damit wird diese oder eine noch gefährlichere Variante irgendwann auch alle, die noch nicht geimpft sind, erreichen. Es ist nur eine Frage der Zeit“, sagte Lauterbach. Er begründet damit auch, warum niedrige Inzidenzen weiterhin das Ziel sein sollten. „Es ist ein Trugschluss zu glauben, dass wir uns eine höhere Inzidenz leisten können, wenn die Impfquote weiter steigt“, sagte der SPD-Mann. Er nimmt ein Rechenbeispiel vor: „Angenommen wir haben eine Impfquote von 66 Prozent, also zwei Drittel der Bevölkerung wären vollständig geimpft, und die Inzidenz läge bei 30. Das würde bedeuten, dass unter den Ungeimpften die Inzidenz sogar bei 90 läge.“ Menschen ohne Impfschutz seien einem viel höheren Risiko ausgesetzt. „Je stärker die Delta-Variante sich verbreitet, desto mehr ungeimpfte Menschen würden auch sterben“, warnte Lauterbach.

BVÖGD-Chefin Teichert pocht darauf, die Impfquote „schnellstmöglich“ zu erhöhen. „Nach der vollständigen Immunisierung ist auch bei einer Ansteckung der Verlauf der Krankheit sehr viel milder. Es ist also ein Wettlauf gegen das Virus, wieder einmal.“

„Rennen“ und „Wettlauf“ - dabei schwingt die Frage mit, ob Deutschland durch Impffortschritt und Schutzmaßnahmen eine vierte Corona-Welle erspart bleibt. Aus Teichert Sicht lässt sich dies heute noch nicht beurteilen. „Aber wenn sie kommt, sollten wir darauf gut vorbereitet sein: Es ist sehr wichtig, dass die Gesundheitsämter jetzt zügig zusätzliches Fachpersonal erhalten“, betonte Teichert. Zugleich müssten die digitalen Möglichkeiten der Ämter insbesondere  bei der Kontakt-Nachverfolgung weiter vorangetrieben werden, forderte die BVÖGD-Vorsitzende.

Lauterbach zeigte sich optimistisch, dass die Inzidenzen über den Sommer unter 10 zu halten sind. „Die Voraussetzung aber ist, dass wir in den Innenräumen weiterhin sehr vorsichtig bleiben. Innen sollte weiterhin eine Masken- und Testpflicht gelten.“ Für den Herbst schloss er eine vierte Welle nicht aus, dann würden die Zahlen „wieder spürbar ansteigen“. „Wir werden dann auch eine massive Kampagne für die Ungeimpften fahren müssen, um diese Menschen zum Impfung zu bewegen“, betonte Lauterbach.

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