60 Jahre Contergan Contergan-Opfer warten noch immer auf Entschuldigung

Aachen · Am Sonntag vor 60 Jahren brachte die Firma Grünenthal das Schlafmittel auf den deutschen Markt. Es verursachte Missbildungen bei tausenden Embryos.

Sie bekommen höhere Renten, mehr Hilfsmittel, bessere medizinische Versorgung. Aber auch 60 Jahre nach Markteinführung des Missbildungen bei Embryos verursachenden Schlafmittels Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid gibt es bei vielen Opfern noch Wut. „Es gibt sehr viele Contergan-Geschädigte, die bei dem Wort Grünenthal komplett zumachen, die von Grünenthal nichts sehen und nichts hören wollen, bis es eine Entschuldigung gibt“, sagt der Vorsitzende des Bundesverbands Contergan-Geschädigte, Georg Löwenhauser. „Es gibt bisher keine Entschuldigung für das Leid, das Grünenthal uns angetan hat.“

In einer aktuellen Stellungnahme des Herstellers heißt es: „Anlässlich des 60. Jahrestags der Markteinführung von Thalidomid in Deutschland drücken wir unser aufrichtiges Bedauern zur Thalidomid-Tragödie und den Folgen für betroffene Menschen und ihre Familien aus“. In der Vergangenheit habe das Unternehmen dies bereits vielfach zum Ausdruck gebracht. „Auch wir wünschten, die Tragödie wäre niemals geschehen.“

Die Entwicklung von Contergan, das ursprünglich als Mittel gegen Allergien gedacht war, begann 1954. Wilhelm Kunz und Heinrich Mückter erprobten das als „K17“ bezeichnete Präparat in der Forschungsabteilung der Chemie Grünenthal GmbH in Stolberg bei Aachen. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel sollte angeblich besonders gut verträglich sein. Folglich griffen auch etwa 10 000 Schwangere europaweit vor allem bei Übelkeit zu Contergan.

Im Juli 1956 erhielt Grünenthal die Genehmigung zur Herstellung thalidomidhaltiger Arzneimittel. Im November des gleichen Jahres kam „Grippex“, das auch Thalidomid beinhaltete, im Raum Hamburg in die Apotheken. Die bundesweite Markteinführung von Contergan als rezeptfreies Mittel erfolgte am 1. Oktober 1957. Im Oktober 1959 ging die erste Meldung eines Arztes ein, der einen Zusammenhang von Contergan und aufgetretenen Nervenerkrankungen vermutete. Anfang 1961 lagen Grünenthal rund 1600 Warnungen über Fehlbildungen bei Neugeborenen vor. Am 27. November 1961 nahm der Hersteller sämtliche thalidomidhaltigen Präparate „bis zur wissenschaftlichen Klärung der aufgeworfenen Fragen“ vom Markt. Zu spät, wie die Pharmazeutin Beate Kirk in ihrer Doktorarbeit von 1998 urteilt: „Falls die Neurotoxizität des Arzneistoffs Thalidomid bereits 1960 dazu geführt hätte, thalidomidhaltige Arzneimittel aus dem Handel zu ziehen, wären mehr als fünfzig Prozent der Fälle thalidomidbedingter Kindesmissbildungen vermieden worden.“

Die Firma Grünenthal schloss 1970 mit den Eltern geschädigter Kinder einen Vergleich, der bei Opfern umstritten ist. Das Unternehmen verpflichtete sich, 100 Millionen DM (51,1 Millionen Euro) zu zahlen. Die Eltern mussten im Gegenzug unterschreiben, auf weitere finanzielle Ansprüche zu verzichten. Das Geld floss in eine Stiftung, die unter anderem – zunächst niedrige – Renten zahlte. 2009 zahlte Grünenthal noch einmal 50 Millionen Euro in die Stiftung ein. Aber der Mammutanteil kommt aus Bundesmitteln: etwa 1,01 Milliarden Euro bis Ende 2016. Daraus würden „die Leistungen an die rund 2700 Leistungsberechtigten der Stiftung weltweit erbracht“, teilt das Familienministerium mit. Aktuell werden Menschen in 38 Ländern unterstützt.

Der Contergan-Wirkstoff Thalidomid ist übrigens auch heute nicht aus der Arzneimittellandschaft verschwunden: Er findet heute Anwendung bei der Therapie von Krebs, Aids und Lepra.

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