FDP-Wahlkampf Der Kanzlermacher

Bad Wiessee · In den Urlaubsmonaten reist FDP-Chef Christian Lindner in die Feriengebiete. Nach Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg, tourt er nun durch Bayern. Am Tegernsee tritt er zum Fernduell mit Grünen-Chef Robert Habeck an. Aus einem besonderen Grund.

 FDP-Spitzenkandidat im Regen bei einem Auftritt in Bad Wiessee am Tegernsee.

FDP-Spitzenkandidat im Regen bei einem Auftritt in Bad Wiessee am Tegernsee.

Foto: Gregor Mayntz

Gerade ist  Christian Lindner an der Stelle angekommen, an der er sich mit Robert Habecks „Traum“ vom bedingungslosen Grundeinkommen auseinandersetzt, als er kurz innehält. Er wischt sich das Wasser aus dem Gesicht. Fünf Minuten steht er schon im Regen. 25 weitere werden noch folgen. Rund hundert Zuschauer lauschen unter ihren Schirmen in einem großen Halbkreis um ihn herum. Von der Seepromenade in Bad Wiessee ist zwar der Tegernsee zu sehen, aber statt des üblichen weiß-blauen bayerischen Augusthimmel ist alles nur grau in grau. Nur der gelb-blaue FDP-Stand und ein paar bunte Schirmen bringen etwas Farbe in die Wetter-Tristesse.

 Eigentlich wäre es für Lindner ein Leichtes, unter dem Dach des FDP-Auftritts zu den Menschen zu reden. Doch er wirft sich nur ein kleines blaues Kunststoffcape über und geht mit seinem dunkelblauen Anzug und den weißen Turnschuhen in den Regen. Bald ist er ordentlich nass. Gut eine Stunde wird er bei 13 Grad im Regen aushalten - und hinterher auf Nachfrage davon sprechen, dass er „robust“ genug dafür sei. Schließlich jogge er auch im Regen.

Vermutlich ist es auch der Habeck-Lindner-Faktor seines Wahlkampfes. Von Habeck gingen Bilder durch die Republik, wie er vollkommen regennass tapfer weiter Wahlkampf macht. Wenig später zog Lindner mit ähnlichen Bildern nach. Am Ende der Rede erfahren die Zuhörer den Grund. Annalena Baerbock werde nach seiner festen Überzeugung nicht Kanzlerin, Olaf Scholz auch nicht, verkündet der FDP-Chef. „Ich werde ihn nicht wählen“, sagt Lindner mit dem Hinweis auf eine „gewisse Orientierungslosigkeit“ und „innere Widersprüche“. So geht aus Sicht der FDP der Auftrag zur Regierungsbildung „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ an CDU-Chef Armin Laschet. Somit sei die Kanzlerfrage entschieden. Die offene Frage bleibe, so Lindner: „Habeck oder Lindner im Finanzministerium.“

 Mit Hilfe dieser Personalie versucht der FDP-Chef nun, die Inhalte seines Wahlkampfauftritts in Bayern zu verdichten. Es gehe um „Investieren in die Bildung oder bedingungsloses Grundeinkommen“, um „Schuldenbremse-Achten oder Politik auf Pump“, um „Steuern erhöhen oder Steuerlast senken“. Der Beifall der absehbar FDP wählenden Zuschauer ist eine klare Antwort auf diese Frage.

 Mögen sich die Medien mit Baerbock oder Laschet, Laschet oder Scholz, Scholz oder Baerbock befassen, Lindner setzt dem sein Habeck oder Lindner entgegen. Dabei geht es ihm letztlich gar nicht darum ob Habeck oder er der nächsten Bundesregierung angehört. Denn er steuert in seiner Rede wiederholt weg von einer Koalition mit SPD und Grünen und gibt als strategisches Ziel aus, dass Union und Grüne nicht ohne die FDP regieren können. Nach jüngsten Umfragen könnten aber auch SPD und Grüne nicht ohne die FDP regieren, auch nicht Union und SPD. Damit wird Lindner in diesem Wahlkampf zum eigentlichen Kanzlermacher.

 Angesichts dieser Schlüsselrolle in der deutschen Politik pflegt er in seinem Auftritt eine bemerkenswerte Bescheidenheit. Rauschen andere Fraktionschefs in der Limousine mit Begleitschutz an, steigt Lindner in Bad Wissee aus einem Mini Cooper. Am Steuer sitzt sein Freund aus Düsseldorfer Tagen, der Unternehmer Gerd Kerkhoff. Er hat am Tegernsee eine neue Heimat gefunden und begleitet Lindner an diesem Tag auch zu weiteren - nichtöffentlichen - Terminen. Weil sich Polizei und Personenschutz an der Seepromenade nach ihrer Gefährdungsanalyse im Hintergrund halten, kann Lindner als nahbarer Politiker in der Menge baden. Dabei nimmt er aus nächster Nähe auch überschwängliche Sympathiebekundungen entgegen. „Sie begeistern die Jugend,“ sagt eine junge Frau. Und fügt die Bitte hinzu: „Werden Sie Bundeskanzler!“ Die Antwort des Spitzenkandidaten: „Gerne! Mit einem Zwischenschritt…“

 Der Zwischenschritt ist die Position des Vizekanzlers. Das könnte er schon seit vier Jahren sein, wenn er die Jamaika-Verhandlungen nicht gesprengt und damit Schwarz-Rot verlängert hätte. Heute erklärt er den Gestaltungsverzicht auch am Tegernsee gerne mit den Erfahrungen von 2009 bis 2013, als die FDP nicht mehr an das vor den Wahlen Versprochene gedacht und deshalb aus dem Bundestag geworfen worden sei. „Daraus haben wir gelernt“, verkündet Lindner. Er verspricht für den nächsten Regierungsanlauf, dass zwar Kompromisse nötig seien, das Profil der Liberalen mit ihren zentralen Wahlkampfpositionen aber jederzeit sichtbar bleiben müsse.

 So lohnt denn der Blick auf diese Positionen. Lindner garantiert, dass es mit der FDP keine Steuererhöhungen geben werde - mit einer Ausnahme: Die „Krisengewinnler der Pandemie“ - Google, Apple, Amazon und Facebook - müssten endlich einen fairen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten. Lange befasst er sich mit der Pandemie, deren Gefahren die FDP nie geleugnet habe, die die Regierung aber zu unangemessenen Eingriffen in die Freiheitsrechte verleitet habe. Einschränkungen für Geimpfte und Genesene verböten sich, weil von ihnen keine Gefahr ausgehe, und selbstverständlich müsse auch Getesteten der Zugang zum Restaurant offen stehen. Dann folgt ein kleiner Seitenhieb auf Markus Söder. Ohne ihn namentlich zu nennen, kritisiert Lindner, dass sich „manche in den Ausnahmezustand verliebt“ hätten.

 Und wieder arbeitet sich der FDP-Chef an seinem Grünen-Amtskollegen ab, würdigt neidlos Habecks Fähigkeiten als „Begriffsklempner“, wenn dieser das negativ besetzte Wort der Verschuldung durch das Vertrauen erweckende Wort des Kredits ersetzen wolle. Und belehrt ihn dann doch im Fernduell: „Wer dauerhaft rote Zahlen schreibt, wird niemals auf einen grünen Zweig kommen.“ Mit „Haltungsfragen“ markiert er weitere Prüfsteine für eine FDP-Regierungsbeteiligung. Er will im Gegensatz zur grünen „Verbotsorgel“ beim Klimaschutz die staatlich-bürokratischen Fesseln lösen. Das klingt schon fast nach schnellen Koalitionsverhandlungen mit Laschet, mit dem Lindner genau das auch in NRW schon auf den Weg brachte.

 Leidenschaftlich wird Lindner, als er von seinem Gespräch mit dem US-Klimabeauftragten John Kerry in der amerikanischen Botschaft berichtet - und will dessen zupackende Mentalität auch in die deutsche Politik bringen: „Deutschland darf nicht der Moralweltmeister beim Klimaschutz sein wollen, Deutschland muss der Technologieweltmeister beim Klimaschutz werden“, verlangt Lindner.

 Und wie fühlt sich für ihn der Wahlkampf 53 Tage vor der Entscheidung an? Wie 2009? Wie 2013? Wie 2017? „Wie ein modifiziertes 2009“, sagt Lindner nach kurzem Nachdenken. Damals habe es bei der FDP auch Protestwähler gegeben, die die Groko weghaben wollten. Die gingen nun woanders hin. Aber ansonsten sei es ähnlich wie im Wahlkampf 2009. Will sagen: Es geht wieder zweistellig aus - und dann in die Regierung. Gefühlt. Davor muss nun nur noch gewählt werden.

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