Bericht der Wehrbeauftragten Zu wenig Material, zu viel Bürokratie

Analyse | Berlin · Der erste Bericht der neuen Wehrbeauftragten Eva Högl ist auch geprägt von der Pandemie. Aber die Probleme der Truppe sind erstaunlich konstant. Warum es in so vielen Jahren so wenig Besserung gibt.

Die neue Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, kurz vor Beginn der Vorstellung ihres ersten Jahresberichtes.

Die neue Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, kurz vor Beginn der Vorstellung ihres ersten Jahresberichtes.

Foto: dpa/Wolfgang Kumm

21,2 Beschwerden und Eingaben je tausend Soldaten zählte die neue Wehrbeauftragte Eva Högl in ihrem ersten Jahr. Das sind exakt so viele wie 1960, kurz nach dem Entstehen der Bundeswehr. Und in all den Jahren haben sich die Muster kaum verändert. Es gibt zu wenig einsatzfähiges Material, die Beschaffung selbst von Kleinigkeiten dauert zu lange, es wird schikaniert und drangsaliert. Aber zwischen den Zeilen der jeweiligen Wehrbeauftragten schimmert doch gehöriger Respekt davor durch, was die Truppe alles unter schwierigsten Verhältnissen auf die Beine gestellt hat.

Nun haben es bürokratische Großorganisationen an sich, den Fortschritt zumeist nur im Schneckentempo zu erleben. Militärbürokratie gilt in dieser Hinsicht als besonders gründlich. Der traditionsreiche Widerspruch zwischen „nichts wird besser“ auf der einen Seite und „im Grunde machen sie einen tollen Job“ hat mit den beiden Grundkonstanten der Bundeswehr zu tun. Einerseits wird sie ständig wechselnden politischen Vorgaben ausgesetzt und hechelt stets dem hinterher, wozu sie gerade gebraucht wird. Andererseits ist die Bundeswehr geprägt nicht von Befehls- sondern von Auftragstaktik, bei der sich jede Ebene selbst überlegen soll, wie sie es am besten hinbekommt.

Angesichts des sich zuspitzenden Kalten Krieges sollte die Wiederbewaffnung am Anfang so schnell und so groß ausfallen, dass ein vernünftiger Aufbau, eine optimale Bewaffnung und eine smarte Ausbildung nicht gelingen konnte. Als die Wiedervereinigung geschafft und Deutschland nur noch von Freunden umgeben war, wurde die Truppe hektisch verkleinert und kaputtgespart. Um wenigstens noch ein paar der rasch wichtiger werdenden Auslandseinsätze bestücken zu können, wurde alles zentralisiert. Dass die Bundeswehr 24 Jahre lang personell, strukturell und materiell ausgeblutet wurde, schlägt sich auch sieben Jahre nach dem Krim-Schock im Bericht der Wehrbeauftragten wieder. Die nach der Annexion der Krim eingeleitete Wende zurück zur Heimat- und Bündnisverteidigung kommt zwar voran, wie Högl an einigen positiven Beispielen, wie dem Eurofighter oder dem Transportflieger A400M, erläutert. Doch insgesamt sei die Truppe aktuell immer noch geprägt von „zu wenig Material, zu wenig Personal, zu viel Bürokratie“.

Und das bedeutet nach ihren inzwischen gewonnenen tiefen Einblicken in den Truppenalltag, dass zwar auf der einen Seite die Bereitschaft des Bundestages gewachsen ist, immer mehr Milliarden in die Verteidigung zu investieren (in diesem Jahr nähert sich der Etat der 50-Milliarden-Grenze), das davon aber zu wenig bei den Soldatinnen und Soldaten ankommt. Immer noch gibt es viel zu wenig moderne Waffensysteme, und von den theoretisch vorhandenen ist ein Viertel nicht einsatzbereit.

Im Pandemiejahr 2020 ist die Bundeswehr auf etlichen Feldern selbst an ihren tief gestapelten Minimalzielen gescheitert. Knapp 500.000 Soldaten zählte die Bundeswehr im Jahr des Mauerfalls, Bis 2016 war sie auf 178.000 geschrumpft. In vier Jahren will sie wieder 203.000 haben. Doch um das zu erreichen, hätten letztes Jahr mindestens 176.772 Zeit- und Berufssoldaten an Bord sein müssen. Es wurden gerade mal 175.526 und damit nicht mal 800 mehr als im Vorjahr - und das auch nur, weil die älteren zum Bleiben animiert wurden. Damit stieg das Durchschnittsalter nach Högls Berechnungen seit Aussetzen der Wehrpflicht acht Jahre zuvor von 30,3 auf 33,4 Jahre - für die Wehrbeauftragte auch ein Anlass zur Sorge.

Auch beim Frauenanteil hängt die Bundeswehr außerhalb des Sanitätsdienstes trotz zweier Verteidigungsministerinnen weit hinterher: 8,9 statt der angestrebten 15 Prozent - nach 20 Jahren Anlaufzeit! Högl müssen sich die Haare gesträubt haben, als sie sich die Beschaffungsvorhaben wichtiger Waffen anschaute: Die 1966 (!) in Dienst gestellten Transporthubschrauber CH-53 müssen dringend durch neue ersetzt werden. Doch das sich seit Jahren hinziehende Vergabeverfahren wurde im letzten Jahr sogar aufgehoben. Auch der Nachfolger für das Standardgewehr G36 ist in den Verfahrensmühlen hängen geblieben. Dabei müssten solche Anschaffungen jedes Jahr ratzfatz über die Bühne gehen, wenn die Bundeswehr wenigstens Ende des Jahrzehntes wieder auf modernem Stand sein soll.

Die Pandemie hat auch die Truppe zum Teil kalt erwischt. Große Verbitterung löste das Streichen der Feldwebel-Auswahl aus. Die Zukunft Tausender Unteroffiziere hing davon ab - und schlug in Verbitterung um, als sie sahen, dass die Auswahl bei den Offizieren wie geplant über die Bühne ging. Da war manche Beschwerde an die Wehrbeauftragte naheliegend. An sie kann man sich jederzeit außerhalb des Dienstweges richten. Und so erfuhr Högl auch von den Beispielen, bei denen die Hygieneregeln absolut nicht funktionierten, etwa, wenn im Panzer die Masken voll Staub und Schweiß waren oder es bei der Übung für 400 Soldaten einen Duschraum gab.

Doch da war auch die andere Seite: Die größte Bedrohung Deutschlands durch einen Virus nahm die Bundeswehr zum Anlass für die größte Amtshilfe. Wo es im Zivilleben klemmte, war die Truppe über Nacht im Einsatz und ist es noch. Högls erste Empfehlung im neuen Amt: eine Einsatzmedaille für alle, die hier über Wochen und Monate Dienst in Gesundheitsämtern, Altenheimen, Krankenhäusern und an vielen anderen Orten leisteten.

Offenkundig haben zu viele Verteidigungspolitiker den jeweiligen Jahresbericht der Wehrbeauftragten nur entgegengenommen. Es wird Zeit ihn ernster zu nehmen.

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