Historisches Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe Wie frei ist der Tod?

Bonn · Das Bundesverfassungsgericht ist mit seinem Urteil zur Suizidbeihilfe sehr weit gegangen. Jetzt muss der Bundestag eine neue Regelung finden.

Das Bundesverfassungsgericht wird mit seinem historischen Urteil zur Suizidbeihilfe die Gesellschaft verändern. Darüber sind sich viele einig. Von einem tiefen kulturellen Einschnitt sprachen am Mittwoch die beiden großen Kirchen. Und der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), Lukas Radbruch, erklärte, Deutschland überhole mit der Entscheidung alle anderen Länder bei der Liberalisierung von Sterbehilfe. Es geht um die grundsätzliche Frage, wie frei ein Mensch über sein eigenes Leben, aber auch über seinen eigenen Tod bestimmen kann.

Das Verfassungsgericht ist dabei sehr weit gegangen bei der Definition des Selbstbestimmungsrechts am Ende des Lebens: „Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz“, heißt es in dem Urteil vom Mittwoch.

Für Radbruch bedeutet das: „Im Prinzip kann auch jeder junge Mensch, der unter Liebeskummer leidet, künftig Hilfe zum Suizid einfordern.“ Es müsse nur sichergestellt werden, dass der Wille des Betreffenden nicht dem Druck aus der Gesellschaft oder dem persönlichen Umfeld geschuldet sei. Damit geht Deutschland aus Sicht des Palliativmediziners weiter als der US-Bundesstaat Oregon oder die Niederlande, die „unerträgliches Leid“ als Voraussetzung für Beihilfe zum Suizid oder aktive Sterbehilfe machen.

Fest steht: Das 2015 vom Bundestag beschlossene Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe (Paragraf 217 Strafgesetzbuch) ist nichtig. Doch wie geht es jetzt weiter? Viele Fragen sind ungeklärt, wie auch das Bundesverfassungsgericht im Urteil durchscheinen ließ. Der Zweite Senat regte etwa eine „konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker“ und Änderungen beim Arzneimittel- und Betäubungsmittelrecht an. Mit anderen Worten: Wer darf künftig die tödlichen Medikamente verschreiben und ausgeben? Gibt es Qualitätsanforderungen an ärztliches Handeln?

Zwar haben die Karlsruher Richter dem Gesetzgeber ausdrücklich das Recht zugesprochen, Suizidhilfe zu regulieren, auch mit dem Strafrecht. Auch sie sehen die Gefahr, dass die Gesellschaft Druck auf Alte und Kranke ausüben könnte, wenn sich ein unreguliertes Angebot der Suizidhilfe etabliert. Deshalb hat das Gericht den Handlungsspielraum stark eingeschränkt: Es muss Raum zur Umsetzung der Selbsttötung bleiben. Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle betonte etwa, das Parlament könne Aufklärungs- und Wartepflichten für Suizidwillige festlegen – ähnlich wie im Bereich der Schwangerschaftsabbrüche. Zudem könnten die Zuverlässigkeit von Sterbehilfevereinen geprüft und besonders gefahrenträchtige Formen der Suizidbeihilfe verboten werden.

Derweil sind Ärzte auch künftig nicht verpflichtet, Suizidhilfe zu leisten – müssen aber keine Strafverfolgung mehr befürchten, wenn sie es aus Überzeugung doch tun. Der Palliativmediziner Matthias Thöns, der ebenfalls in Karlsruhe geklagt hat, ist erleichtert: „Ich kann Patienten in verzweifelten und seltenen Situationen einen Ausweg zeigen und muss sie nicht auf brutale Suizidmethoden verweisen.“ Die Bundesärztekammer ist nach wie vor der Auffassung, dass Beihilfe zum Suizid „grundsätzlich nicht zu den Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten“ gehört. Präsident Klaus Reinhardt kündigte aber „eine innerärztliche Debatte zur Anpassung des ärztlichen Berufsrechts“ an.

Nicht beteiligt an dem Senatsbeschluss war wegen eines Befangenheitsantrags der Verfassungsrichter Peter Müller. Er hatte in seiner Zeit als saarländischer Ministerpräsident eine dem jetzt für verfassungswidrig erklärten Paragraf 217 Strafgesetzbuch ähnliche Regelung im Bundesrat auf den Weg bringen wollen.

Die Berliner Politik reagierte am Mittwoch sehr verhalten auf das Urteil – und etwas ratlos. Suizidbeihilfe dürfe nicht zur Normalität werden, sagte etwa die gesundheitspolitische Sprecherin der Union, Karin Maag (CDU), der Augsburger Allgemeinen. Die Politik müsse sich des Themas noch einmal annehmen. Den wichtigsten Hebel sieht sie darin, die Palliativmedizin noch weiter auszubauen.

Die FDP sieht das Urteil dagegen als gute Grundlage für „ein liberales Sterbehilfegesetz, das den Betroffenen und Ärzten endlich Rechtssicherheit verschafft“, wie der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Stephan Thomae erklärte.

Aus Sicht des Leipziger Staats- und Verfassungsrechtlers Hubertus Gersdorf hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts noch eine weitere politische Tür geöffnet: Karlsruhe habe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben festgestellt. „Ich wage die These, dass nicht nur der Paragraf 217, sondern auch der 216 – die Tötung auf Verlangen – verfassungswidrig ist.“ Deutschland könnte also eine Debatte auch über aktive Sterbehilfe ins Haus stehen und damit einmal mehr um die Frage, wie frei Menschen über ihr eigenes Leben und ihren eigenen Tod bestimmen können.

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