Interview Franz Wagner „Auch Pflegende haben ein Streikrecht“

Berlin · Die neue Bundesregierung muss für mehr Personal in der Pflege sorgen, sagt Pflegerat-Chef Franz Wagner im SZ-Interview. Außerdem kritisiert er den SPD-Wahlkampf.

Franz Wagner Bundesgeschäftsführer Foto: DBfK Bundesverband e.V.

Franz Wagner Bundesgeschäftsführer Foto: DBfK Bundesverband e.V.

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Angesichts des Pflegenotstands fordert der neue Präsident des Deutschen Pflegerats, Franz Wagner, ein Sofortprogramm für mehr Pflegepersonal.

Herr Wagner, in zahlreichen Krankenhäusern wird derzeit für mehr Personal auch im Pflegebereich gestreikt. Finden die Ausstände Ihre Unterstützung?

WAGNER Auf jeden Fall. Pflegende haben genauso das Recht zu streiken wie andere Berufsgruppen auch. Die Patienten dürfen dabei allerdings nicht in Gefahr kommen. Dazu müssen Notdienste organisiert werden. Und das passiert ja auch.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz meinte kürzlich, in der Pflege werde „die Würde des Menschen mit Füßen getreten in vielen Fällen“. Ein zutreffender Befund?

WAGNER Das ist eine problematische Aussage. Denn die allermeisten Pflegenden geben jeden Tag ihr Bestes. Wenn das ganze System jedoch dazu führt, dass nicht genügend Personal zur Verfügung steht, dann muss das alarmieren. Nehmen Sie nur so etwas Banales wie den Gang zur Toilette. Wenn sich ein Pflegender gerade um andere wichtige Dinge kümmern muss anstatt einem Betroffenen dabei behilflich zu sein und der deshalb ins Bett macht, dann ist das sicher auch entwürdigend.

Die große Koalition aus Union und SPD hat den Pflegesektor in den letzten vier Jahren so umfassend reformiert wie keine andere Regierung vor ihr. War das alles umsonst?

WAGNER Keineswegs. Die neuen Pflegegrade zum Beispiel sind ein Meilenstein für eine bessere Pflege. Allerdings wirkt dieses Instrument bislang nur bei der Begutachtung der verbliebenen Fähigkeiten eines Patienten, aber noch nicht bei seiner pflegerischen Versorgung. Die jeweils spezielle Art von Leistung muss erst noch entwickelt werden. Insofern ist bei den Reformen alles noch im Fluss.

Was verstehen Sie unter dem Schlagwort Pflegenotstand?

WAGNER Dass es Wartelisten gibt, um in ein Pflegeheim zu kommen, oder um eine teilstationäre Versorgung zu erhalten. Aber natürlich auch Nachwuchsprobleme bei den Pflegenden und ihrer Bezahlung.

Da muss es Ihnen doch gefallen, wenn die Sozialdemokraten plötzlich auch auf ein Lohnplus von 30 Prozent für Pflegekräfte drängen, um den Beruf attraktiver zu machen.

WAGNER Das klingt gut, ist aber zu unspezifisch. Soll das für alle gelten? Oder nur für Einzelne? Es gibt doch riesige Unterschiede bei der Bezahlung. Wer als Pflegefachperson in einer Klinik in Baden-Württemberg oder Bayern arbeitet, verdient heute schon etwa ein Drittel mehr als ein Altenpfleger, der in Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern beschäftigt ist. Kurzum, die pflegerische Versorgung ist hochkomplex und deshalb für Schnellschüsse ungeeignet.

In den letzten Jahren ist die Zahl der Pflege-Azubis deutlich gestiegen. Ganz so schlecht kann es um den Berufsstand doch nicht stehen, oder?

WAGNER Die Zahl ist gestiegen, ja. Aber diese Entwicklung ist zum Teil auch einer Absenkung der Zugangsvoraussetzungen geschuldet. Die Anzahl der Ausbildungs-Abbrecher und derer, die am Ende die Prüfung nicht besteht, steigt auch. Wir müssen aufpassen, dass die qualitativen Standards im Interesse einer guten Versorgung nicht sinken. So lange sich die Rahmenbedingungen, angefangen von den Stellenplänen bis zur individuellen Wertschätzung nicht ändern, ist der Pflegeberuf nicht sonderlich attraktiv. Das zeigt auch die große Zahl der Pflegenden, die ihren Beruf frustriert aufgegeben hat.

Was sollte eine neue Bundesregierung in Sachen Pflege zuerst anpacken?

WAGNER Zwei Dinge. Erstens: Die von Union und SPD bereits beschlossene Ausbildungsreform muss schnell durch die notwendige Ausbildungs- und Prüfungsverordnung, also durch das Kleingedruckte, praktikabel gemacht werden. Zweitens: Wir brauchen ein Sofortprogramm für mehr Pflegepersonal und ein Bemessungsverfahren, das zu bundesweit einheitlichen Mindestzahlen bei Pflegenden in Kliniken und Heimen führt.

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