Urteil des Bundesarbeitsgerichts Stechuhr-Urteil – Experten geben Ausblick: So wird sich die Arbeitswelt ändern
Arbeitszeiterfassung wird verpflichtend, so das Grundsatzurteil des Bundesarbeitsgerichts. Die Folgen sind nach Einschätzung von Experten weitreichend – das müssen Angestellte jetzt wissen.
Höchstrichterlicher „Paukenschlag“ für die Arbeitswelt, so die Einschätzung des Bonner Arbeitsrechtsprofessors Gregor Thüsing. Während Ampel-Regierung, Wirtschaft und Arbeitsrechtler diskutieren, schafft das Bundesarbeitsgerichts (BAG) juristische Fakten: In Deutschland gilt zukünftig eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Inken Gallner, Präsidentin des höchsten deutschen Arbeitsgerichts, verweist in der Urteilsbegründung auf bereits bestehendes europäisches Recht. Demnach ist das sogenannte Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) maßgebend. Dieses sieht eine systematische Erfassung der Arbeitszeiten vor.
Mit seinem Grundsatzurteil preschte das Bundesarbeitsgericht in der Debatte um die Änderung des deutschen Arbeitszeitgesetzes vor. Die Bundesregierung arbeitet derzeit daran, die EuGH-Vorgaben von 2019 zur Einführung einer objektiven, verlässlichen und zugänglichen Arbeitszeiterfassung in deutsches Recht umzusetzen.
Arbeitszeiterfassung: Urteil trifft auf geteiltes Echo
Bei der Bewertung des Urteils gehen die Meinungen von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden auseinander. Die Arbeitgebervereinigung BDA kritisierte das BAG-Grundsatzurteil zur Arbeitszeiterfassung als „überstürzt und nicht durchdacht“. Das Gericht überdehne mit seiner Entscheidung den Anwendungsbereich des Arbeitsschutzgesetzes deutlich, sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter in einer Mitteilung am Mittwoch, 14. September. „Diese Entscheidung darf nicht dazu führen, dass bewährte und von den Beschäftigten gewünschte Systeme der Vertrauensarbeitszeit in Frage gestellt werden“, so Kampeter.
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) bewertet die Arbeitszeiterfassungspflicht als Weg, übermäßige Überstunden einzudämmen. „Diese Feststellung ist lange überfällig. Die Arbeitszeiten der Beschäftigten ufern immer mehr aus, die Zahl der geleisteten Überstunden bleibt seit Jahren auf besorgniserregend hohem Niveau“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel ebenfalls am Mittwoch. Die lange diskutierte Arbeitszeiterfassung sei eine Grundbedingung, damit Ruhe- und Höchstarbeitszeiten eingehalten würden, so Piel.
Das BAG-Urteil zur Arbeitszeiterfassung und seine Folgen im Überblick
Nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz müssen bisher nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht die gesamte Arbeitszeit. Fachleute rechnen daher damit, dass das Stechuhr-Urteil weitreichende Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben wird, vor allem auf Vertrauensarbeitszeitmodelle wie das Homeoffice.
- Was bedeutet das BAG-Urteil im Klartext? Das Grundsatzurteil gibt vor, dass Arbeitgeber die Arbeitszeit ihrer Beschäftigten erfassen müssen.
- Wirkt das Urteil wie ein Gesetz? Ja, es ist aber nicht so detailliert. Ein zukünftiges Gesetz könnte auch regeln, wie die Arbeitszeit aufgezeichnet werden solle, wie es weitergehe mit Vertrauensarbeit oder ob es möglicherweise Branchenregelungen geben soll, so die Einschätzung einer BAG-Sprecherin.
- Was passiert, wenn ein Arbeitgeber dieser Pflicht nicht nachkommt? Erfasst ein Arbeitgeber trotz Aufforderung die Arbeitszeit nicht, können die Arbeitsschutzbehörden eingeschaltet werden.
- Bewirkt das Stechuhr-Urteil ein Ende von flexiblen Arbeitszeitmodellen? „Das Urteil bedeutet mitnichten das Ende von Vertrauensarbeitszeit und Homeoffice – das ist eine Gespensterdebatte“, so Piel.
- Wird auf der Arbeit wieder die Stechuhr eingeführt? Gegenüber „t-online“ widerspricht Arbeitsrechtsanwalt Michael Fuhlrott der Einschätzung von DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel. „Mit der Vertrauensarbeitszeit ist es dann vorbei“, sagt der Experte. Demnach werde künftig jeder penibel seine Arbeitszeit dokumentieren müssen, einschließlich Pausen. Im übertragenen Sinne wird damit die Stechuhr für alle kommen. Dem wiederum stimmt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ausdrücklich nicht zu: „Erfassung ja – Stechuhr nein!“, wird ein Beitrag auf der Website betitelt.
Definition von „Arbeitszeit“ durch das Ministerium für Arbeit im Saarland:
- Das Arbeitszeitgesetz legt fest, wann und wie lange Beschäftigte in Deutschland arbeiten dürfen. Es stellt den Gesundheitsschutz der Beschäftigten sicher, indem es die tägliche Höchstarbeitszeit begrenzt sowie Mindestruhepausen während der Arbeit und Mindestruhezeiten nach Arbeitsende festlegt. An Sonn- und Feiertagen besteht ein grundsätzliches Beschäftigungsverbot. Für außergewöhnliche Einzelfälle sind Ausnahmebewilligungen möglich.
- Zu lange Arbeitszeiten und zu kurze Ruhepausen gefährden die Gesundheit der Beschäftigten. Pausen sind zur Erholung und zum Erhalt der Leistungsfähigkeit erforderlich.
- Die Mitarbeiter des Landesamtes für Umwelt- und Arbeitsschutz beraten und überprüfen die Betriebe im Hinblick auf die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes.


Wann wird das Urteil zur Arbeitszeit gesetzlich umgesetzt?
Nach dem Grundsatzurteil zur verpflichtenden Erfassung der Arbeitszeit in Deutschland hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Vorschläge für eine Umsetzung der Pflicht in Aussicht gestellt. Zunächst müsse sein Ministerium aber das Urteil und die Begründung dazu auswerten, sagte Heil am Mittwoch auf Nachfrage der Deutschen Presse-Agentur.
Zum sogenannten Stechuhr-Urteil des EuGH, das bislang in Deutschland noch nicht umgesetzt worden ist, heißt es im Ampel-Koalitionsvertrag: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (etwa Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“
Eine Sprecherin des Arbeitsministeriums erklärte dazu am Mittwoch, dass das EuGH-Urteil „keinen zeitlichen Rahmen“ für die Umsetzung der Arbeitszeiterfassungspflicht setze. Gespräche mit Gewerkschaften und Arbeitgebern in Form eines „Arbeitszeitgipfels“ hätten noch nicht stattgefunden.