Halle im Ausnahmezustand Entsetzen nach Terror-Angriff in Halle
Halle/Saale · Zwei Menschen werden in Halle erschossen und eine Synagoge angegriffen. Erst nach und nach wird die Brutalität des Angriffs deutlich.
Sirenengeheul unterbricht über Stunden die Totenstille. Rettungswagen reihen sich hintereinander. Schwer bewaffnete Polizisten in schwarzen Anzügen und mit Helmen durchkämmen das beschauliche Paulusviertel im Norden von Halle in Sachsen-Anhalt. Etwa 30 Meter von einer Synagoge entfernt liegt die Leiche einer Frau, sie ist mit einer blauen Decke bedeckt. Daneben steht ein schwarzer Rucksack, an dessen Reißverschluss eine kleine Stoffente hängt. Ein Mann wird in einem Döner-Imbiss erschossen. Mindestens zwei weitere Menschen werden verletzt.
Es sind gespenstische Szenen nach den bewaffneten Angriffen in der Saalestadt, die laut Bundesinnenminister Horst Seehofer sehr wahrscheinlich ein rechtsextremistisches Motiv haben. Der mutmaßliche Täter, ein 27-jähriger Deutscher in Kampfanzug und Waffen, soll in den sozialen Netzwerken ein Bekennervideo hochgeladen haben. Darin ist zu sehen, wie offensichtlich in der Innenstadt von Halle geschossen wird. Unter anderem zeigt das Video, wie in einem Döner-Imbiss mehrfach auf einen Mann geschossen wird, der hinter einem Kühlschrank liegt. Die Aufnahmen stammen wohl von einer an einem Helm befestigten Kamera.
Der Mann gibt in schlechtem Englisch extrem antisemitische Äußerungen von sich. In den Aufnahmen ist zu sehen, wie der Filmende vergeblich versucht, in die Synagoge an der Humboldtstraße zu gelangen. Die Tür bleibt allerdings verschlossen. Daraufhin schießt der Täter auf der Straße einer Passantin mehrfach in den Rücken, die ihn zuvor angesprochen hatte. Die Frau bleibt leblos neben dem Fahrzeug des Täters liegen.
„Wir haben über die Kamera unserer Synagoge gesehen, dass ein schwer bewaffneter Täter mit Stahlhelm und Gewehr versucht hat, unsere Türen aufzuschließen“, schilderte der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Halle, Max Privorozki, der „Stuttgarter Zeitung“. „Aber unsere Türen haben gehalten.“
Erst nach Stunden wurden die etwa 80 Synanogenbesucher in Bussen weggebracht. Währenddessen herrschte vor den Türen noch der Ausnahmezustand. Die Polizei hat das Gebiet weiträumig mit Flatterband abgesperrt. Am Himmel über der Innenstadt kreiste bis in die Abendstunden ein Hubschrauber. Streifenwagen fuhren mit Blaulicht durch das Villenviertel und forderten die Anwohner auf, Türen und Fenster geschlossen zu halten.
Denn die Polizei meldete zunächst, mehrere bewaffnete Täter seien mit einem Auto auf der Flucht. Auch in Landsberg wurde geschossen, wie die Polizei bestätigte. Zu den näheren Umständen des Vorfalls in dem Ort im Saalekreis wollte sie zunächst nichts sagen. Mehrere Mannschaftswagen der Polizei, darunter auch Fahrzeuge aus Sachsen, sowie zwei Krankenwagen waren in dem Ort östlich von Halle.
Bis in die Abendstunden durchsuchten bewaffnete Polizisten in den Händen im Ortsteil Wiedersdorf Gebäude. Anwohner durften ihre Häuser nicht betreten. Ihm sei gesagt worden, die Polizisten würden Grundstück für Grundstück durchsuchen, sagte ein 51-Jähriger einem dpa-Reporter vor Ort. Erst am späten Nachmittag war die Polizei sicher, es mit einem Einzeltäter zu tun zu haben - dem mutmaßlichen Rechtsextremist Stephan B. aus Sachsen-Anhalt.
Der öffentliche Nahverkehr in Halle war komplett eingestellt. Der Hauptbahnhof Halle war über Stunden gesperrt. Auf den Straßen der Stadt mit knapp 239 000 Einwohnern staute sich der Auto- und Lastwagenverkehr.
Auch im benachbarten Leipzig und zahlreichen anderen Städten verschärfte die Polizei ihre Kräfte vor der Synagoge. Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, erhob nach dem Angriff auf die Synagoge schwere Vorwürfe gegen die Polizei. „Dass die Synagoge in Halle an einem Feiertag wie Jom Kippur nicht durch die Polizei geschützt war, ist skandalös“, teilte Schuster am Mittwochabend mit. „Diese Fahrlässigkeit hat sich jetzt bitter gerächt.“
Schuster erklärte weiter: „Die Brutalität des Angriffs übersteigt alles bisher Dagewesene der vergangenen Jahre und ist für alle Juden in Deutschland ein tiefer Schock.“
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) brach seinen Besuch bei der EU in Brüssel ab. „Ich bin entsetzt über diese verabscheuenswürdige Tat“, hieß es in einer Mitteilung. „Es wurden durch sie nicht nur Menschen aus unserer Mitte gerissen, sie ist auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land. Mein Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer.“

09.10.2019, Sachsen-Anhalt, Landsberg: Ein Hubschrauber der Bundespolizei ist bei Wiedersdorf/Landsberg im Einsatz. Neben den Schüssen in Halle hat es auch Schüsse im rund 15 Kilometer entfernten Landsberg (Saalekreis) gegeben. Das bestätigte eine Sprecherin der Polizei Halle der dpa. Foto: Jan Woitas/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Foto: dpa/Jan WoitasAm Abend gedachten Christen in Halle in der Marktkirche der Opfer der Schüsse und der Angehörigen. „In dieser Stunde stehen wir zutiefst erschrocken und traurig an der Seite der Menschen, die einen lieben Angehörigen oder Freund so grausam verloren haben. Wir denken an die jüdische Gemeinde“, erklärte Hans-Jürgen Kant, Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Halle-Saalkreis.