Analyse: Die Vorgänge in Thüringen markieren nicht den Rückfall in unheilvolle Zeiten Weimar, immerwährende deutsche Warnung
Erfurt · In Thüringen wurden Fehler begangen, die hanebüchen sind. Die Erschütterung darüber aber darf den Blick auf die Lage nicht verstellen.
Ein Hauch von Weimar liegt über der Bundesrepublik Deutschland, seit es sie gibt. Denn diese Republik ist nicht denkbar ohne jene vorherige, die scheiterte. Auf die alte Frage, ob sich Geschichte wiederhole, traut sich niemand, eine abschließende Antwort zu geben, aber ein paar Gewissheiten darf man hervorheben.
Eine davon lautet, dass wir das Ende von Weimar kennen. Bonn wurde der Gegenentwurf, damit sich Geschichte eben nicht wiederholt. Wir sind schon deswegen nicht Weimar, weil wir Weimar durchgemacht haben. Und weil sich aus der Geschichte lernen lässt.
„Ich bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.“ So skizzierte 1948 der Sozialdemokrat Carlo Schmid das neue Prinzip der abwehrbereiten, der wehrhaften Demokratie. Schmid war eine Schlüsselfigur des Parlamentarischen Rates, der das Grundgesetz ausarbeitete. Und diese Verfassung sieht tatsächlich Maßnahmen zum Schutz der freiheitlichen Grundordnung vor, welche die Weimarer Republik nicht kannte.
Der überstarke Präsident, die schwache Regierung, deren Mitglieder der Reichstag einzeln per Misstrauensvotum „abschießen“ konnte, ohne Nachfolger zu wählen, das heikle Instrument des nationalen Referendums, zudem die unheilvollen Notverordnungen, die dem Präsidenten breiten antiparlamentarischen Spielraum eröffneten – all das waren Webfehler der Weimarer Reichsverfassung, die das Grundgesetz korrigiert hat. In ihrer Kombination erleichterten sie es Hitler, an die Macht zu kommen.
Da war die bereits erwähnte Verfassung. Da waren die Eliten, die den Staat hätten tragen müssen, die ihn aber zu beträchtlichen Teilen ablehnten – Richter und Beamte seien stellvertretend genannt. Da waren die bürgerlichen Politiker, die sich Hitler entweder dienstbar machen wollten oder ihn schlicht nicht ernst nahmen oder beides. Da war die Verschwörung der Extremisten, das „System“ von Weimar zu stürzen. Da war eine verheerende Wirtschaftskrise, und vor und über allem ein verlorener Krieg, die wohl größte Hypothek, aus der viele der anderen Belastungen erst entstanden.
Von diesem Katalog bleibt heute nicht viel; innenpolitisch nichts. Es mag plausibel klingen, von Erosion der Mitte zu sprechen, wenn Union und SPD mit Not noch auf 40 Prozent kommen, aber gerade in Thüringen ist die Linke eben keine systemgefährdende Partei, sondern eher so etwas wie die SPD vor 30 Jahren.
Aber ist nicht Thomas Kemmerich mithilfe des Faschisten Björn Höcke an die Macht gekommen? Legitimiert nicht spätestens das die deutsche Warnung: Weimar? Man darf, wie Äpfel mit Birnen, Erfurt mit Weimar und Höcke mit Hitler vergleichen. Es mag politisch wirkungsvoll sein, historisch führt es in die Irre. Wer Höcke mit Hitler vergleicht, der macht die deutsche Demokratie schwächer, als sie ist. Vor allem aber erweist er der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus einen schlechten Dienst. In der AfD-Zentrale wird allerhand Widerwärtiges, Verfassungsfeindliches ersonnen, aber kein neuer Holocaust, auch kein Eroberungskrieg.
Auch wenn man Höcke einen Faschisten nennen darf und seine Partei in Teilen rechtsextrem ist: Die AfD gehört eher in die Reihe Orbán, Trump, Putin als Hitler, Goebbels, Göring. Das ist schlimm genug, und man muss es immer wieder sagen — die Demokratie ist auch durch solche Gestalten gefährdet. An Auschwitz zu erinnern und daran, wie es möglich wurde, ist derzeit nötiger denn je. Trotzdem steht nicht die zweite Machtergreifung vor der Tür. Unsere Demokratie ist stärker als ihre Feinde. Und viel stärker als die von Weimar.