Im Parlament fliegen Zähne und Blumentöpfe

Istanbul · Die Regierungspartei AKP peitscht Verfassungsänderungen durch das Parlament, das sich damit selbst entmachten soll. Und das offenbar mit Erfolg: Die kontroversesten Artikel wurden in dieser Woche bereits abgenickt.

"Das wird noch blutig", prophezeite ein Beobachter im türkischen Parlament zu Beginn der Verfassungsdebatte in dieser Woche, und er behielt recht. Schon bevor die Aussprache über die Einführung eines Präsidialsystems anfing, hatte ein Oppositionsabgeordneter einen Zahn verloren - ausgeschlagen im Gerangel mit der Polizei vor der Volksvertretung in Ankara. Und das war nur der Auftakt: Auf Biegen und Brechen peitscht die Regierungspartei AKP die Verfassungsänderungen durch das Parlament, das sich damit selbst entmachten soll. Mit allen Mitteln bis hin zu Drohungen und Einschüchterungen wird dabei gearbeitet, und das offenbar mit Erfolg. Die kontroversesten Artikel wurden in ersten Lesung diese Woche schon abgenickt, so dass auch bei der Schlussabstimmung noch vor Ende des Monats mit einem Ja zu dem Gesamtpaket zu rechnen ist, das dann im April mit einer Volksabstimmung verabschiedet werden soll.

Vergeblich richtete Sami Selcuk, als früherer Vorsitzender des Berufungsgerichtshofes einer der anerkanntesten Juristen im Land, einen flammenden Appell an alle Abgeordneten, Rechtsgelehrten und Wähler im Land und sogar an Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan , auf den die Verfassungsänderung leibgeschneidert ist. Wenn die Türkei diese Reform verabschiede, werde sie kein Verfassungsstaat mehr sein, schrieb Selcuk in seinem "J'Accuse" in der Oppositionszeitung "Cumhuriyet". "Selbst ein demokratisch denkender Präsident wäre in diesem System gezwungenermaßen ein Diktator, er müsste zwangsläufig ein totalitäres Regime führen." Und dann machte Selcuk noch eine Prophezeiung: "Auch jene, die diesen Text heute unterstützen, werden von ihm versklavt werden und noch den Tag bereuen, an dem sie geboren wurden." Das könnten vermutlich heute schon einige der Volksvertreter unterschreiben, denen die Regierung die mindestens 330 notwendigen Stimmen abverlangt - die 316 AKP-Abgeordneten und die 39 Vertreter der nationalistischen MHP, deren Vorsitzender Devlet Bahceli das Vorhaben mitträgt. Einen immensen Druck haben die Parteiführungen auf die Abgeordneten aufgebaut, die eigentlich frei, geheim und nur ihrem Gewissen verpflichtet abstimmen sollten.

Immer wieder fallen die Abgeordneten mit Fäusten übereinander her. Blumentöpfe segeln durch die Luft, ein AKP-Abgeordneter will gar von einem Oppositionsabgeordneten ins Bein gebissen worden sein. Erdogan hat die Losung ausgegeben: Ob es nun 14 Tage dauere oder einen Monat, am Ende werde die Verfassungsänderung vom Parlament abgenickt und zur Volksabstimmung geschickt, kündigte der Präsident in dieser Woche wieder an. Damit das auch wirklich klappt, machten die Parteiführungen noch einmal Feuer unter ihren Abgeordneten: Wenn die Reform nicht durchgehe, werde es Neuwahlen geben. Die Drohung kommt bei den Abgeordneten an, denn wer bei Neuwahlen wieder kandidieren darf, das bestimmen die Parteiführungen - und die suchen sich ihre Kandidaten nach Wohlverhalten aus. Dennoch halten sich Gerüchte in den Parlamentskulissen, dass bis zu 20 Abgeordnete in der zweiten Abstimmungsrunde nächste Woche kneifen könnten. Erdogan legte deshalb am Freitag noch einmal nach: Wenn das Parlament nicht funktioniere, werde es eben aufgelöst, sagte er. Am Donnerstag votierte die Volksvertretung mit 343 von 550 Stimmen dafür, sich selbst das Recht auf Kontrolle der Exekutive abzuerkennen.

Auch die Abschaffung des parlamentarischen Rechts auf Misstrauensvoten gegen Minister fand eine Mehrheit von 343 Stimmen. Und mit 340 Ja-Stimmen votierte die Volksvertretung am Freitag für die besonders kontroverse Neuerung, wonach der Staatspräsident auch zu Friedenszeiten per Dekret regieren kann.

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