„Ich konnte die Grenze ohne Brille sehen“

Erneut geht ein Jahr zu Ende, in dem die Politik im Dauereinsatz war. Wie schaffen das Merkel & Co.? Einer, der es wissen muss, ist Franz Müntefering (75). Mit dem früheren SPD-Chef sprach SZ-Korrespondent Hagen Strauß.

2015 war ein Jahr extremer Belastungen. Wie hält ein Spitzenpolitiker das durch?

Müntefering: Ich bin 2015 nicht mehr vorne in der Verantwortung dabei. Ob das vergleichbar ist mit meiner Zeit, mag ich nicht beurteilen. Aber meine Erfahrung damals war: Man hält viel aus. Dabei ist die Überzeugung unverzichtbar, dass die Arbeit gelingen kann, und der Wille, dass sie gelingen soll.

Wenig Schlaf, stundenlange Sitzungen - und trotzdem muss man geistig frisch sein. Kann man das trainieren?

Müntefering: Ja, das ist tatsächlich ein Dilemma. Auf Gymnastik habe ich nie verzichtet, auf unregelmäßiges Joggen auch nicht. Gesundes Essen, na ja, wenig Alkohol. Und fester Schlaf, wann immer es dazu eine Gelegenheit gibt. Auch tagsüber minutenweise, in kleinen Portionen.

Wann sind Sie in Ihrer politischen Laufbahn mal an Ihre Grenzen gestoßen?

Müntefering: Als ich 2004 und 2005 gleichzeitig Fraktionsvorsitzender und Parteivorsitzender war. Und als dann mit knappsten Mehrheiten im Bundestag die Agenda 2010 beschlossen werden sollte, war das ziemlich anstrengend. Das war noch nicht die Grenze, aber ich konnte sie schon ohne Brille sehen. Manchmal war es eng.

Wie wichtig ist in solchen Phasen die Familie, das private Umfeld?

Müntefering: Das ist unersetzlich. Man darf da auf Aufmerksamkeitsstufe I verzichten - sonst darf man das nirgendwo - und ist absolut sicher. Das war ich. Das entspannt und bedeutet Erholung.

Welche Rolle spielen die Mitarbeiter?

Müntefering: Ohne die geht das nicht. Man muss sich auf sie verlassen können und gewiss sein, dass sie mehr wissen als man selbst. Und dass sie einen jeden Elfmeter schießen lassen. Das war bei meinen Mitarbeitern immer so.

Man hat den Eindruck, je älter Politiker werden, desto besser werden sie. Woran liegt das?

Müntefering: An den Jungen. Mit 20 bis 25 Jahren glauben die, dass die Älteren altmodisch sind und nicht auf der Höhe der Zeit. Im Alter von 40 bis 60 Jahren wundern sie sich dann, was die Alten immerhin doch alles in den vergangenen gut 20 Jahren gelernt haben. Gar nicht so schlecht, heißt es dann. Und das geht dann immer so weiter.

Kann Politik süchtig machen?

Müntefering: Politik nicht, aber Leben. Und da kommen wir bald wieder bei der Politik an. Diese Art der Sucht hat meine volle Sympathie.

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Zur PersonFranz Müntefering war zweimal SPD-Chef, von 2005 bis 2007 Vizekanzler und Arbeitsminister. Mit Kanzler Schröder brachte er 2003 die Agenda 2010 auf den Weg. Heute ist er ehrenamtlicher Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes. red

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