„Högschde Konzentration“ im Bundestag

Berlin · Während der nächsten vier Wochen wird sich in Deutschland während der EM wieder alles um Fußball drehen. Ist das die Gelegenheit, heikle Gesetzesvorhaben ohne große Öffentlichkeit im Bundestag durchzupauken?

 Grenzenloser Jubel von Angela Merkel und Joachim Gauck beim WM-Finale 2014. Auch die EM will Merkel verfolgen. Foto: Brandt/dpa

Grenzenloser Jubel von Angela Merkel und Joachim Gauck beim WM-Finale 2014. Auch die EM will Merkel verfolgen. Foto: Brandt/dpa

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In Berlin steigt das Fußballfieber. Auf der Straße des 17. Juni vor dem Brandenburger Tor wird ab heute die Fanmeile aufgebaut. Und auch die Politik im angrenzenden Reichstag bereitet sich auf die morgen beginnende Fußball-EM in Frankreich vor. Es werden Reisepläne zur EM geschmiedet, es wird gemeinsames Fußballgucken organisiert, und womöglich wird politisch Brisantes auf die Tagesordnung des Parlaments gehievt werden. Um es geräuschlos abzuräumen. Zumindest lehrt dies die Erfahrung.

Kein Politiker kann sich heute leisten, kein Fußball-Fan zu sein. Auch die Kanzlerin reist gerne zu den Spielen der Nationalmannschaft, jubelt und lässt sich in der Kabine zu Selfies mit den Kickern hinreißen. Wann Merkel zur EM fährt, ist noch unklar. Sie wolle versuchen, "fast alle Spiele am Fernsehapparat zu verfolgen - und sicher auch mal hinfahren", ließ sie jetzt wissen. Frühere Turniere haben allerdings gezeigt: Je weiter Jogis Jungs kommen, desto öfter wird Maskottchen Merkel auf der Tribüne sitzen.

Fest gebucht hat seine EM-Reise schon Bundesinnen- und Sportminister Thomas de Maizière (CDU ). "Er wird zum dritten Gruppenspiel der deutschen Mannschaft gegen Nordirland fahren", so sein Sprecher. Warum ausgerechnet zu diesem Match, bleibt de Maizières Geheimnis. Und auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD ) hat vor, mindestens ein Spiel im Stadion zu verfolgen.

Derweil machen sich die Abgeordneten des Bundestages bereits Gedanken, wie sie Beruf und Sport in den nächsten vier Wochen unter einen Hut bringen können. Denn während der EM finden zwei Sitzungswochen statt. Spielt die deutsche Mannschaft, werden wie in der Vergangenheit auch Parlamentstermine verschoben - zweimal könnte das der Fall sein. Je nachdem, wie weit das Team kommt. Dann versammeln sich die Politiker in den Sälen des Bundestages, im Gebäude der parlamentarischen Gesellschaft, oder die von Abgeordneten gegründeten Fanclubs laden in die Kneipen im Regierungsviertel ein. "Wenn es passt, schauen wir gemeinsam", sagt Dirk Wiese (SPD ), Gründer der "Bundestagsborussen". Sie sind die Anhänger des BVB. "Und in Gedanken sind wir dann bei Marco Reus ."

Bei aller Begeisterung, politisch ist trotzdem in nächster Zeit "högschde Konzentration" gefordert, wie Jogi Löw sagen würde. Denn während der letzten Welt- und Europameisterschaften hat das Hohe Haus immer auch Gesetze mit heiklem Inhalt durchgewinkt. In der Hoffnung, dass es keiner merkt. Ein Rückblick: Als bei der WM 2006 in Deutschland die Fans das Sommermärchen feiern, beschließen Bundestag und Bundesrat, die Mehrwertsteuer anzuheben. Von 16 auf 19 Prozent. Vier Jahre später, als der Ball in Südafrika rollt, bringen die damaligen Koalitionäre Union und FDP die Erhöhung der Krankenkassenbeiträge auf den Weg. Dann das Halbfinale der EM 2012, Deutschland gegen Italien. 28 Millionen sitzen vor dem Fernseher, im Bundestag winken zeitgleich 26 Abgeordnete die Reform des Meldegesetzes durch. Ämter sollen die Daten von Bürgern an Firmen und Adresshändler weitergeben dürfen. Das Gesetz muss nach einem Aufschrei der Empörung korrigiert werden. Zu guter Letzt die WM 2014 in Brasilien: Da beschließt das Parlament, bei Lebensversicherungen die Ausschüttungssummen zu kappen - was erhebliche Einbußen für Versicherte bedeutet. So kann es kommen, wenn Fußball zum Schutzschild für die Politik wird. Und was droht 2016? Die Tagesordnungen des Plenums zur EM liegen noch nicht vor. Also abwarten. Und aufpassen.

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Hintergrund Aus Sorge vor Anschlägen will jeder vierte Deutsche bei der anstehenden Fußball-Europameisterschaft Public Viewing meiden. In einer gestern von "Focus Online" veröffentlichten Insa-Umfrage gaben das 26,5 Prozent der Befragten an. Mehr als die Hälfte (51,8 Prozent) der Bürger planen demnach aber weiterhin, solche Veranstaltungen zu besuchen. afp

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