„Hitler hatte so gut wie keine eigenen Ideen“

Die historisch-kritische Ausgabe von Hitlers „Mein Kampf“ schlägt schon vor ihrer Veröffentlichung Anfang Januar hohe Wellen. Ist das Volksverhetzung oder Entzauberung? SZ-Redakteur Jörg Wingertszahn sprach darüber mit dem Saarbrücker Professor für Neuere und Neueste Geschichte, Rainer Hudemann, der auch an der Pariser Universität Sorbonne lehrt und forscht.

Herr Professor Hudemann, ist es eine gute Idee, jetzt eine Neuauflage von "Mein Kampf" auf den Markt zu bringen?

Hudemann: "Mein Kampf" wird ja nicht neu aufgelegt - das wäre eine schlechte Idee. Veröffentlicht wird eine wissenschaftliche Edition , an der die Mitarbeiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte fünf Jahre lang gearbeitet haben. Natürlich ist es außerordentlich schwierig, im Jahr 2016 zu entscheiden, ob man das tut. Die Veröffentlichung hat nur dann eine Berechtigung, wenn der Text umfassend erläutert wird. Dann ist sie jedoch absolut sinnvoll.

Zurzeit haben wir in Deutschland aber eine sehr aufgeheizte Stimmung. Die rechtsextreme Szene tritt gerade stark in Erscheinung. Ist eine solche Veröffentlichung dann nicht eine Vorlage für diese?

Hudemann: Es geht ja darum, Hitler und dieses Werk zu entmystifizieren. Es gibt eine Fülle von Legenden um dieses Buch, die seit Jahrzehnten in der rechtsextremen Szene kursieren. Das Buch ist ja ohnehin sehr leicht erhältlich. Mit einem oder zwei Klicks finden Sie es in vielen Sprachen der Welt im Internet. Außerhalb Deutschlands, wie zum Beispiel in Indien, hat "Mein Kampf" große Konjunktur.

Welche weiteren Erkenntnisse erhoffen Sie sich von der neuen Veröffentlichung?

Hudemann: Diese neue Edition zeigt, aus wie vielen Quellen der europäischen Geschichte Hitler seine Ideen bezogen hat. Anders gesagt: Hitler hatte so gut wie keine eigenen Ideen, das stammt alles aus anderen Zusammenhängen. Daraus ist ein sehr widersprüchliches Konglomerat entstanden, das scheinbar eine geschlossene Weltanschauung darstellt. Tatsächlich sind diese Versatzstücke aber nur durch den Antisemitismus von Hitler verbunden. Zu den Mythen über das Dritte Reich gehört - zum Beispiel in Frankreich -, dass die Vernichtungspolitik der Nazis die konsequente Umsetzung der Ideen von "Mein Kampf" gewesen sei. Dort ist die Schoah aber gar nicht erwähnt. Tatsächlich ist das Dritte Reich ungeheuer kompliziert. Gerade die Dynamik und die Gewalt, die zu den Genoziden des Zweiten Weltkriegs führten, erklären sich aus einer Fülle unterschiedlicher Faktoren und Situationen. Es kann also keine Rede davon sein, dass ein solches Buch allein mächtig genug ist, einen großen Teil der Welt in Brand zu setzen.

Wie schätzen Sie die Bedeutung von "Mein Kampf" heute ein?

Hudemann: In vielen Ländern steht "Mein Kampf" hoch im Kurs. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Für Ägypten und die Türkei gilt beispielsweise, dass diese Länder von großen Führergestalten - das Wort wähle ich bewusst so - modernisiert wurden. Nasser auf der einen Seite, Atatürk auf der anderen Seite. Das waren teils Diktatoren, sind aber als große Führer, die die Nation erst geschaffen haben, im Gedächtnis geblieben. Als ich als Student Anfang der 70er Jahre zu einem Erdbebeneinsatz in der Türkei war, haben Kinder uns auf der Straße mit Hitlergruß begrüßt - nicht, weil sie Nazis waren, sondern weil sie uns eine Freude machen wollten. Dahinter stehen solche Vaterfiguren wie Atatürk, die verwechselt werden mit Hitler.

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