Grüner Spagat

Halle · Auf dem Parteitag der Grünen in Halle musste Simone Peter bei ihrer Wiederwahl als Co-Chefin einen Dämpfer hinnehmen. Acht Prozentpunkte büßte die Saarländerin im Vergleich zu 2013 ein.

Durch mehr als 500 Änderungsanträge hatten sich die Delegierten bereits durchgekämpft, da wurde es noch einmal ganz grundsätzlich: Zur Abstimmung stand ein Vorstandspapier mit der Überschrift "Geschlechtergerechte Sprache in Anträgen". Gemeint waren nicht nur schlechthin "Frau" und "Mann", sondern auch jene, die sich sozusagen als Zwischenwesen fühlen. "Um sicherzustellen, dass alle Menschen gleichermaßen genannt und dadurch mitgedacht werden, wird in unseren Beschlüssen ab jetzt der ‚Gender-Star' benutzt", hieß es in der Vorlage. Aus "BürgerInnen" wird also ab sofort "Bürger*innen". Was das soll? Eine Aussprache darüber war nicht gewünscht. Der Antrag ging mit überwältigender Mehrheit durch.

So viel Harmonie herrschte längst nicht immer in den vergangenen drei Tagen. Islamistischer Terror , Flüchtlingselend - das hat den Bundesparteitag der Grünen in Halle an der Saale kräftig durcheinandergewirbelt. "Ich kann es auch nicht mehr hören, wenn der eine oder andere Islamvertreter quasi ritualisiert erklärt: Das alles hat nichts mit dem Islam zu tun", donnerte Grünen-Chef Cem Özdemir mit Blick auf die Gewalttaten des IS. So glasklar hatte man das bei den Grünen noch nicht gehört. Genauso wenig wie das Bekenntnis, "dass nicht alle, die in Deutschland Asyl beantragen, auch bleiben können". Ein Berliner Kreisverband wollte diesen Passus im Leitantrag streichen. Doch nur eine kleine Minderheit hob dafür die Hand.

Wer nun meinte, die Grünen würden in der Terror- und Flüchtlingsproblematik eine Wende um 180 Grad vollziehen, der sah sich getäuscht. Sämtliche Beschlüsse und auch viele Debattenbeiträge dazu glichen einem Spagat zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Solidarität mit Frankreich ja, aber militärischer Beistand besser nicht. Hände weg vom Grundrecht auf Asyl , aber an den "Grenzen des Machbaren" sei man schon angelangt, wie Winfried Kretschmann , der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, betonte.

Auch die Ergebnisse der turnusmäßigen Vorstandswahlen boten ein eher diffuses Bild. Gleich mehrfach hatte Özdemir zu den verschiedensten Themen das Wort ergriffen. Stets wirkte der "anatolische Schwabe", wie Özdemir sich selbst bezeichnet, dabei kämpferisch und mitreißend. Und jedes Mal bekam er starken Applaus. Doch die knapp 77 Prozent, die Özdemir am Ende bei seiner Wiederwahl bekam, bedeuteten nur eine leichte Verbesserung gemessen am Votum des Jahres 2013. Dabei könnte den Grünen mit dieser Spitzenpersonalie angesichts der aktuellen Ereignisse nichts Besseres passieren. Schließlich ist Özdemir, dessen Eltern vor fünf Jahrzehnten aus der Türkei nach Deutschland kamen, das personifizierte Beispiel für eine gelungene Integration.

Offenkundig hatte das etwas enttäuschende Resultat mit der grünen Flügel-Arithmetik zu tun. Özdemirs Co-Chefin, die Saarländerin Simone Peter , die sich dem Votum der Delegierten zuerst stellte, kam lediglich auf 68 Prozent der Stimmen - eine Verschlechterung um fast acht Prozentpunkte gegenüber 2013. "Das lag an den Realos", hieß es hinterher beim linken Flügel, auf dessen "Ticket" Peter läuft. Bei den Realos wiederum, die von Özdemir repräsentiert werden, gab man den Ball zurück. Immerhin hatte eine völlig unbekannte Gegenkandidatin Peters fast 18 Prozent der Stimmen eingeheimst. "Die Linken waren zersplittert", schlussfolgerte ein Özdemir-Anhänger.

Wie dem auch sei, die Ergebnisse sind nicht unerheblich für die Bewerbung um die grüne Spitzenkandidatur bei der nächsten Bundestagswahl. Fraktionschefin Katrin-Göring Eckardt und ihr Co-Vorsitzender Anton Hofreiter haben dafür bereits ihren Hut in den Ring geworfen. Genauso wie Schleswig-Holsteins Umweltminister Robert Habeck . Auch Peter und Özdemir werden solche Ambitionen nachgesagt. Angesichts ihres dürftigen Abschneidens in Halle könnte Peter nun davon Abstand nehmen.

Am Ende des Parteitages waren die Delegierten wieder ganz bei sich - ein großer Ballon mit der Aufschrift "Es gibt keinen Planeten B" flog durch die Tagungshalle, gleichsam als Symbol für das bekräftigte Ziel, die Stromversorgung in Deutschland bis 2030 komplett aus erneuerbaren Energiequellen zu speisen. Die Forderung einer Gruppe um Habeck, davon wegen Machbarkeitsproblemen abzurücken, fand keine Gnade. Bliebe eigentlich nur noch zu klären, ob der Parteiname künftig geschlechtergerecht "Die Grün*innen" heißen muss …

Meinung:

Zwischen allen Stühlen

Von Stefan Vetter

Alles könnte so schön grün sein. In der kommenden Woche beginnt die Weltklimakonferenz in Paris. Der Abbau umweltschädlicher Emissionen und der Ausbau erneuerbare Energien - das ist die politische Paradedisziplin der Grünen. Auch bei ihrem jüngsten Parteitag verwendeten sie darauf wieder viele rhetorische Beschwörungen. Nur steht Paris derzeit für ganz andere Probleme: Islamistische Gewalt, Angst vor Sicherheitslücken und ein weit verbreitetes Unbehagen gegenüber den Flüchtlingsströmen dominieren das Bild. Und daran dürfte sich so schnell nichts ändern. Dumm für die Grünen. Denn auf diesen Feldern wird ihnen kaum Lösungskompetenz zugemessen.

Sicher, wer sich daran erinnert, wie unbekümmert die Grünen noch bis vor ein paar Jahren auf Multikulti machten, "offene Grenzen für alle" predigten und eine Verpflichtung von Asylsuchenden zum Erlernen der deutschen Sprache als "Zwangsgermanisierung" abqualifizierten, der muss sich die Augen reiben, was inzwischen zur Beschlusslage der einstigen Protestpartei gehört: der Ruf nach mehr Polizei zum Beispiel und die Erkenntnis, "dass nicht alle, die in Deutschland Asyl beantragen, auch bleiben können". Nur sind solche Punkte längst politisches Allgemeingut im Land. Und genau deshalb sitzen die Grünen zwischen allen Stühlen. Teile der eigenen Klientel fühlen sich eher irritiert. Und dem großen Rest geht der grüne Sinneswandel längst nicht weit genug. Da wird es sehr schwer, neue Wählerschichten zu erschließen.

Genau die braucht es aber wohl, sollen die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachen-Anhalt im kommenden Frühjahr nicht verloren gehen. Durch das Erstarken der AfD ist die grüne Regierungsteilhabe in Stuttgart und Mainz in Gefahr. Mit einem kraftvollen Sowohl-als-auch wie am Wochenende in Halle wird sie nicht zu retten sein.

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