Großfamilie: Eva und Franz-Josef Gorius haben mehrere behinderte Pflegekinder bei sich aufgenommen

Steinberg-Deckenhardt · Hier ist an Weihnachten besonders viel los: Mit Kindern, Enkeln und einigen Tieren leben die Eheleute Gorius auf einem Bauernhof. Alle packen mit an, um das Leben mit drei schwerstbehinderten Kindern zu meistern.

 Ein starkes Team: Mika, Lucie und Finn (v.l.) spielen zusammen an ihrem Lern-Computer. Fotos: Oliver Dietze

Ein starkes Team: Mika, Lucie und Finn (v.l.) spielen zusammen an ihrem Lern-Computer. Fotos: Oliver Dietze

Vor acht Jahren war Tom (Name geändert) fast tot. Heute bringt er Leben in die Familie. Der Junge sitzt im Rollstuhl, kann sich nicht bewegen, nicht sprechen und ist blind. "Er fühlt, was um ihn herum passiert", ist sich seine Pflegemutter Eva Gorius (62) sicher. "Am liebsten feiert er nachts Partys." Da schreie und lache der Kleine manchmal so laut, dass die ganze Familie aufwacht. Eva Gorius und ihr Mann Franz-Josef (60) lernten Tom mit sechs Jahren im Kinderhospiz in Leipzig kennen. Dort lebte der Junge seit seiner Geburt. Damals gaben ihm die Ärzte maximal ein paar Wochen. Doch Tom kämpfte. Ohne seine Mutter, die ihn nicht wollte. "Seine Betreuerinnen", erzählt Franz-Josef Gorius, "haben ihm den Spitznamen Prinz verpasst."

Und in den verlieben sich die Eheleute Gorius sofort. Bereits nach dem zweiten Treffen ist klar: Sie haben ihr Pflegekind gefunden. Sie nehmen den kleinen Prinzen mit nach Steinberg-Deckenhardt . Im St. Wendeler Land besitzen die Gorius' ein 700 Quadratmeter großes Haus, zwölf Räume, fünf Bäder, Küche und Wohnzimmer . Behindertengerecht ausgebaut. "Wir wollten Tom die Chance geben, in einer Familie aufzuwachsen", sagt Eva Gorius und korrigiert sich: "Einer Großfamilie. Mit Bauernhof und vielen Tieren." Neben dem Ehepaar und Tom leben noch zehn weitere Personen unter einem Dach. Ihre beiden leiblichen Töchter Sabrina (31) und Vanessa (24) mit ihren Partnern, die vier Enkel Lucie (6), Finn (4), Lenny (2) und Yohnathan (2 Wochen) sowie zwei weitere schwerstbehinderte Pflegekinder Mika (15) und Tobias (14, Name geändert). "Ich wollte immer eine große Familie haben. Kinder sind meine Leidenschaft", sagt Mutter Eva Gorius.

Sie schiebt Tom mitten ins Wohnzimmer . Sein Lieblingsplatz. Lucie tänzelt durch den Raum. Springt über Bauklötze und Spielzeugautos, die überall herumliegen. "Verrückte Hühner", ruft der im Rollstuhl sitzende Mika und zeigt mit dem Finger auf sie. Dabei stößt er den Hocker neben sich um. Weihnachtsmusik dröhnt aus dem Radio. Es knallt. Die Unordnung wird Lenny zum Verhängnis. Ausgerutscht auf einem Legostein, liegt der Zweijährige am Boden. Tränen kullern über seine Wangen. "Ich habe Hunger", beschwert sich Tobias. Er ist mit seinem Rollstuhl in der Küche und klopft mit einer Gabel auf den Holztisch. Tom kreischt. Es ist eben Leben in der Bude.

Eva Gorius lächelt entspannt. Sie hebt den Hocker auf, klemmt ihren Enkel Lenny unter den Arm, reicht Tobias einen Teller mit Käsekuchen und streicht Tom durchs Haar. "So sieht er immer so frech aus", sagt sie. Was für andere Mütter Stress pur bedeutet, meistert Eva Gorius mit Ausgeglichenheit. "Ich hatte Zeit, in die Situation hineinzuwachsen. Es kamen ja nicht alle Kinder auf einmal", erklärt die gelernte Erzieherin. Außerdem seien ihre Töchter beste Unterstützung. Sabrina und Vanessa. Sie werden sich auch um ihre Pflegebrüder kümmern, wenn ihre Eltern nicht mehr können.

Heute ist Vanessa als Ergotherapeutin gefragt. Sie vertritt die erkrankte Logopädin, die wöchentlich vorbeikommt. Eva Gorius hebt den 38 Kilo schweren Tobias aus dem Rollstuhl. Sie umklammert ihren Pflegesohn mit beiden Armen, legt ihn auf eine grüne Yoga-Matte. Vanessa übernimmt, dreht Tobias auf die Seite und zieht seine linke Schulter nach hinten. "Aua", beschwert sich der 14-Jährige. "Seine Gelenke sind fest, die Beweglichkeit ist sehr eingeschränkt", erklärt Vanessa. Am 4. Oktober 2001 hat Familie Gorius den damals fünf Monate alten Säugling aufgenommen. Seine leibliche Mutter interessierte sich nicht für ihn. Sie brachte Tobias 16 Wochen zu früh zur Welt. Körperliche und geistige Schäden waren die Folge.

Der 15-jährige Mika ahnt, dass auch er gleich zur Therapie muss. Vorsorglich hat er sich mit seinem Lern-Computer zurückgezogen. Lucie lehnt auf seinem Schoß. Die beiden haben längst herausgefunden, dass es auch einen Spielemodus gibt. Sie zocken, sie jubeln, Mika haut mit der Faust auf den Tisch. Ein roter Balken poppt auf: Level gemeistert. Gemeinsam.

"Lucie ist neun Jahre jünger als Mika. Sie bringt ihm so viel bei", sagt Eva Gorius. Sie freut sich über jeden noch so kleinen Fortschritt ihres Pflegesohns. Seine Geschichte ist grausam. Als Säugling wurde er misshandelt, erlitt Gehirnblutungen. Als die Eheleute Gorius den Jungen das erste Mal im Krankenhaus sehen, machen ihnen die Ärzte keine Hoffnung. "Schwerste Behinderungen", haben sie gesagt. Mika ist damals fünf Monate alt. Heute ist er 15 und spielt, lacht, redet sogar ein paar Worte. Das sei auch ein Verdienst der Körperbehindertenschule in Homburg. "Die Lehrer und Erzieher dort geben sich wirklich sehr viel Mühe", erzählt Eva Gorius. Abwechslung sei wichtig. Basteln, malen, Traktor fahren, die Tiere. "Wir machen viel mit den Kindern", sagt die 62-Jährige.

Tageshöhepunkt heute: Plätzchen backen. Die ganze Familie sitzt am Esstisch. Mika stopft sich eine Handvoll Teig in den Mund. "Was machst du da?", fragt Sabrina. "Er hat heute wohl schon genug geschafft", mutmaßt Eva Gorius. Mika kichert, spuckt dabei den Teig durch die Luft. Alle zwölf lachen mit. In solchen Momenten vergisst die Familie ihre Sorgen. Wenn auch nur für kurze Zeit. "Wir haben keine Lobby", erklärt Franz-Josef Gorius. Seine Familie müsse um alles kämpfen - auch darum, in Zukunft weiterhin eine bleiben zu dürfen. In der Regel wechseln Pflegekinder in eine Behinderteneinrichtung, wenn sie volljährig sind. Entscheiden sich Pflegefamilien dazu, ihr erwachsenes Kind weiter zu versorgen, bekommen sie kaum finanzielle Unterstützung. "Wir setzen uns dafür ein, dass sich diese Situation ändert", erklärt Franz-Josef Gorius. Doch egal, was auch passiert: Er und seine Frau haben sich längst entschieden: "Mika, Tom und Tobias bleiben hier. Sie sind unsere Kinder."

Am Tisch ist es plötzlich verdächtig still. "Wo sind Tobias und Finn?", fragt Sabrina. In der Küche. Finn hat es sich auf der Fußablage von Tobias' Rollstuhl gemütlich gemacht. Beide futtern Plätzchen. "Hey, wenn ihr jetzt schon alle wegesst, haben wir ja gar keine mehr für Weihnachten", sagt Sabrina. Die Jungs schnappen sich noch einen Keks und rollen zurück ins Wohnzimmer .

Franz-Josef Gorius schaut den Kindern beim Spielen zu. "Für uns ist jeder Tag eine neue Herausforderung", sagt der Diplom-Verwaltungswirt und rührt nachdenklich in seinem Kaffee. Die Familie müsse auf vieles verzichten. "Manchmal sagen die Leute, wir würden die Pflegekinder nur wegen des Geldes zu uns nehmen", erzählt Eva Gorius. "Das tut dann schon weh." Die 62-Jährige räumt den Tisch ab, gleich muss sie die Kinder ins Bett bringen. Feierabend hat Eva Gorius aber nicht. Bis zu sieben Mal steht sie nachts auf, um ihre Pflegesöhne Tom und Mika umzulagern. "Wir machen das gerne", sagt Franz-Josef Gorius, "die Kinder geben uns so viel zurück."

Tobias schnappt sich ein Feuerzeug. Sein Ziel: der Adventskranz. Eva Gorius hilft ihm, die vier Kerzen anzuzünden. Stolz klopft Franz-Josef Gorius seinem Pflegesohn auf die Schulter. Der 14-Jährige strahlt. Wieder meldet sich Tom. Der kleine Prinz gluckst zufrieden.

 Eva Gorius hebt ihren 38 Kilogramm schweren Pflegesohn aus dem Rollstuhl. Sie legt Tobias zur Therapie auf eine Yoga-Matte.

Eva Gorius hebt ihren 38 Kilogramm schweren Pflegesohn aus dem Rollstuhl. Sie legt Tobias zur Therapie auf eine Yoga-Matte.

 Vanessa ist gelernte Ergotherapeutin. Sie fördert die physische und mentale Fitness ihres Pflegebruders Tobias.

Vanessa ist gelernte Ergotherapeutin. Sie fördert die physische und mentale Fitness ihres Pflegebruders Tobias.

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HintergrundFamilie Gorius arbeitet mit der Diakonie Düsseldorf zusammen. Diese gründete 2001 das Hilfsangebot des Zentralen Fachdienstes für Pflegekinder mit chronischen Krankheiten und Behinderungen (ZFP). Seine Aufgabe ist es, für behinderte Kinder, deren leibliche Eltern sich nicht um sie kümmern können oder wollen, ein neues Zuhause zu finden. Zudem unterstützt der ZFP Pflegefamilien in ihrem Alltag. Die Mitarbeiter betreuen 218 Pflegefamilien und Pflegekinder in Deutschland. sara

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