Genschers legendärer Satz in Prag

Berlin. Den Satz kennt fast jeder. Nur wie er zu Ende ging, weiß kaum jemand. Heute ist es auf den Tag genau 20 Jahre her, dass der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag verkündete: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . 

Berlin. Den Satz kennt fast jeder. Nur wie er zu Ende ging, weiß kaum jemand. Heute ist es auf den Tag genau 20 Jahre her, dass der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag verkündete: "Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise . . ." Der Rest ging im Jubel von 4000 DDR-Flüchtlingen unter, von denen manche schon seit Wochen auf eine solche Ankündigung gewartet hatten. Viele bekommen heute noch eine Gänsehaut, wenn die Szene wieder einmal im Fernsehen läuft. Und nicht wenigen steigen jedes Mal die Tränen in die Augen.

Genscher stand an jenem Abend nicht allein auf dem Balkon, sondern zusammen mit einem Dutzend Männern. Vor allem hatte er Rudolf Seiters an seiner Seite. Der CDU-Mann war wegen der deutsch-deutschen Besonderheiten als Kanzleramtsminister für die Verhandlungen mit der DDR zuständig. Schon seinerzeit war die Konkurrenz zwischen FDP-geführtem Außenministerium und CDU-Kanzleramt kein Geheimnis. Nach Einschätzung der meisten Historiker machten erst Seiters und Genscher gemeinsam den Erfolg von Prag möglich.

Das Drama zog sich über Wochen hin. "Wir haben seit Mitte August pausenlos mit Ost-Berlin verhandelt", erinnert sich der 71-jährige Seiters. Bundeskanzler Helmut Kohl kurierte in den entscheidenden September-Tagen zuhause in Ludwigshafen eine Erkrankung aus. Genscher selbst hatte gerade einen Herzinfarkt hinter sich. Bei der UN-Vollversammlung in New York erfuhr Genscher, dass der Ständige Vertreter der DDR in Bonn, Horst Neubauer, dringend um einen Termin gebeten hatte. Das Gespräch fand dann am nächsten Morgen, einem Samstag, bei Seiters im Kanzleramt statt - ein Detail, das Genscher heute gern unerwähnt lässt. "Neubauer teilte uns mit, dass die DDR in einem einmaligen humanitären Akt bereit sei, die Ausreise der Flüchtlinge zu gestatten", so Seiters. "Bedingung war, dass die Züge aus Prag noch einen Umweg über DDR-Gebiet fahren, nicht direkt in die Bundesrepublik." Damit sollte nach außen hin das Gesicht gewahrt werden. Die Minister machten sich mit einer Bundeswehr-Maschine sofort auf den Weg nach Prag. Auf dem Balkon ergriff nur Genscher das Wort, Seiters stand im Schatten. Daran hat sich kaum etwas geändert. Die Genscher-Worte gehören heute zum nationalen Erinnerungsgut. Der Balkon ist als "Genschers Balkon" bekannt. Aber immerhin: Zur 20-Jahr-Feier heute wurde auch Seiters eingeladen. Nachträglich. Zunächst hatte man ihn vergessen. dpa

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