Flüchtlingskrise bringt Lkw-Fahrer in Bedrängnis

Dover · Jede Nacht versuchen Flüchtlinge, von Frankreich nach Großbritannien zu gelangen. Meistens schaffen sie die Strecke durch den Tunnel, indem sie sich in einem LKW verstecken. Für die Fahrer wird die Situation am Tunnel immer problematischer, sie haben Angst.

 Dennis Bosen (links) und Serkan Baycan fahren regelmäßig im Lkw nach London. Foto: Pribyl

Dennis Bosen (links) und Serkan Baycan fahren regelmäßig im Lkw nach London. Foto: Pribyl

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Im Rückspiegel sah Dennis Bosen sie kommen. Mit einem Teppichmesser schlitzte einer der Männer die Plane des Lastwagens auf und zwei Flüchtlinge huschten ins Innere des monströsen Anhängers. Bosen blieb ruhig im Fahrerhäuschen sitzen, rührte sich nicht, während in seinem Lkw verzweifelte Menschen kauerten, die sich durch seine unfreiwillige Hilfe ein neues Leben erträumten. Der Brummi, der hinter dem 27-jährigen Deutschen im kilometerlangen Stau stand, gab ihm per Lichthupe ein Zeichen. "Aber ich steige in so einer Situation nicht aus, ich begebe mich doch nicht in Lebensgefahr", sagt Bosen. "Ich habe schon Verständnis für diese Leute, aber wir haben Angst." Wenige Meter weiter, kurz vor der Einfahrt in den Eurotunnel , war die Hoffnung der Flüchtenden schon wieder erloschen. Spürhunde schlugen bei der Polizeikontrolle in der französischen Hafenstadt Calais an, bellten lauter als sonst. Die Männer wurde inmitten von Briefen und Paketen, die Bosen von Köln nach London kutschiert, entdeckt und festgenommen. Wären sie auf britischer Seite gefunden worden, hätte Bosen umgerechnet 3000 Euro pro Flüchtling als Strafe bezahlen müssen - weil er per Gesetz als Schleuser von illegalen Einwanderern gegolten hätte. Die Franzosen ließen ihn ohne Gebühr weiterfahren.

Seit Wochen sorgt die Krise am Ärmelkanal nun schon für chaotische Verhältnisse auf beiden Seiten des Eurotunnels. In Calais harren tausende von Flüchtlingen in slumartigen Unterkünften aus und versuchen Nacht für Nacht, nach Großbritannien zu gelangen. Sie verstecken sich in Lkw-Anhängern, springen auf Züge, klettern mit Leitern auf Lkw-Dächer oder kriechen auf die Achse der Gefährte. Mehrere Menschen kamen dabei bereits ums Leben. Und mitten im humanitären Drama finden sich die Lkw-Fahrer wieder. Der britische Transport-Verband Road Haulage Association (RHA) hat in einer Petition sogar bereits einen Militäreinsatz gefordert, um "Recht und Gesetz" wiederherzustellen. Die Kosten für das Transportgewerbe seien massiv, klagte RHA-Chef Richard Burnett. Britische Fahrer berichteten von "gewalttägigen Drohungen und Beeinträchtigungen".

Aus den Mauern von Westminster hallt es, das Vorgehen gegen illegale Grenzübertritte habe "oberste Priorität". London setzt vor allem auf Abschreckung. So will die konservative Regierung unter Premierminister David Cameron durch demonstrative Härte die Flüchtlingskrise lösen. Anfang der Woche ging der scharfe Appell aus Downing Street an alle Haus- und Wohnungseigentümer im Königreich. Wer den Aufenthaltsstatus der potenziellen Mieter nicht ausreichend prüfe und an illegale Einwanderer vermiete, soll künftig mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft werden können. Zudem dürfen Besitzer Mieter ohne Aufenthaltsgenehmigung künftig ohne richterlichen Beschluss vor die Tür setzen.

Die verschärften Regelungen sollen in einen Gesetzentwurf zur Immigration aufgenommen werden, den die Tory-Regierung im Herbst im Parlament vorlegen will. Hinzu kommt das Vorhaben der Konservativen, die Löhne illegaler Zuwanderer zu beschlagnahmen. Bereits vergangene Woche hatte London zusätzliche zehn Millionen Euro für verstärkte Maßnahmen auf französischer Seite zugesagt. Cameron warnte die Flüchtlinge und versprach den Briten: "Wir werden mehr Zäune, mehr Mittel, mehr Spürhunde-Staffeln schicken." Der Regierungschef gab einem "Schwarm von Menschen" die Schuld an der Krise - als wären die rund 3000 Menschen in Calais, die hauptsächlich aus Syrien, Äthiopien, Afghanistan und aus dem Sudan geflüchtet sind, Insekten.

Der deutsche Lkw-Fahrer Serkan Baycan hastet an der ersten Service-Station nach dem Eurotunnel bei Folkestone zum Behördenschalter und lässt sich einen Stempel vom Zoll geben. Der 42-Jährige fährt für das Speditionsunternehmen "Kölner Flitzer" normalerweise zwei bis drei Mal pro Woche DHL-Post von Deutschland auf die Insel und zurück. Zurzeit schafft er die Strecke, für die er inklusive Abladen in der Regel zehneinhalb Stunden braucht, nur noch maximal einmal wöchentlich. Letzte Woche dauerte sie 30 Stunden. Er und seine Kollegen stehen vor allem im Stau. Sobald ein Flüchtling auf den Gleisen in Frankreich gesichtet wird, stoppt die Polizei die Lkw-Kolonne für zwei bis drei Stunden. Dabei wimmelt es laut Baycan in den Büschen von Menschen, die jede Chance auf eine Mitfahrgelegenheit nutzen wollen. Auch auf britischer Seite waren die Straßen zuletzt verstopft, weil die englischen Sicherheitskräfte den Tunnel immer wieder sperren, um einen Verkehrskollaps zu verhindern. Einmal brauchte Dennis Bosen für 35 Kilometer zwölf Stunden. 3300 Lkw standen auf den drei Spuren in Richtung Eurotunnel .

Noch immer zeugen mobile Klohäuschen auf dem Standstreifen von dem Chaos, Plastiktüten und Müll haben sich in den orange-weißen Verkehrshütchen verfangen, die wie in Alarmbereitschaft am Straßenrand warten. Auf den Feldern daneben wächst Getreide und grasen Schafe. "Heute läuft der Verkehr, aber wie lange?", fragt ein Tankstellen-Mitarbeiter. "Es war ein Albtraum in den letzten Tagen", tausende Flüchtlinge seien von den Lkw gesprungen. Jene, die aufgespürt werden, landen in einem Abschiebungszentrum. Wer aus Bürgerkriegsländern stammt, darf einen Antrag auf Asyl stellen und auf der Insel bleiben. Vorbestrafte Menschen oder solche aus Staaten, wo die Situation als weniger gefährlich gilt, werden zum Flughafen gebracht und nach Hause geschickt. Eine deutsche Camperin, die an einer Raststätte hastig ihre Zigarette raucht, zeigt sich froh, dass sie die Insel staufrei erreicht hat. Aber die Berlinerin findet es "schon berührend, wenn man dem Ganzen so nahe kommt." "Wir sind ja nicht im Krieg." Von einem Kreuzfahrtschiff wehen Bassklänge an den Strand von Dover herüber. "Es ist ruhiger als sonst zu dieser Zeit", sagt eine Mitarbeiterin der Touristeninformation von Dover . Erst der Streik der Lkw-Fahrer, nun die Flüchtlingskrise. "Die Menschen meiden Dover wie die Pest."

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HintergrundIn Nordfrankreich haben erneut hunderte Flüchtlinge versucht, zum Eurotunnel nach Großbritannien vorzudringen. Die Polizei zählte in der Nacht zu gestern in dem riesigen Gebiet um den Tunneleingang nahe Calais rund 500 Flüchtlinge . 400 Fluchtversuche seien außerhalb des Eurotunnel-Geländes abgewehrt worden. 180 Mal seien Flüchtlinge abgefangen worden, die es über die Zäune auf das Areal geschafft hätten. Die Zahl liegt deutlich unter den 1700 Fluchtversuchen, die in der Nacht zum Montag gezählt worden waren, aber höher als in den beiden Nächten zuvor. Eine Inspektion im Inneren des Tunnels führte derweil gestern zu Verspätungen im Zugverkehr. Es sei eine "Anomalie" festgestellt worden, teilte die Betreibergesellschaft Eurotunnel mit. Was genau vorgefallen war, wurde aber nicht bekannt - es könnte sich ebenso um einen technischen Defekt wie um in den Tunnel vorgedrungene Flüchtlinge handeln. Seit Wochen versuchen jede Nacht hunderte in Calais gestrandete Flüchtlinge , zum Eurotunnel vorzudringen. afp

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