„Europa verkauft hier seine Seele“

Heute sollen die ersten Flüchtlinge von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgebracht werden – und zugleich andere Migranten direkt nach Europa fliegen dürfen. Was die Europäische Union als endgültige Lösung des Flüchtlingsproblems ansieht, ist für Ex-Grünen-Chefin Claudia Roth zutiefst verwerflich. Unser Berliner Korrespondent Werner Kolhoff sprach mit der 60-jährigen Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.

 Claudia Roth (Grüne) fordert, den EU-Türkei-Vertrag sofort auszusetzen.

Claudia Roth (Grüne) fordert, den EU-Türkei-Vertrag sofort auszusetzen.

Foto: Lein/dpa

Ist das, was heute beginnen wird, das hässliche Ende der deutschen Willkommenskultur?

Roth: Es ist eine erbärmliche Politik, die ausschließlich auf Abschreckung und die Errichtung einer europäischen Festung setzt. Es geht nicht mehr um den Schutz von Flüchtlingen, sondern nur noch um den Schutz vor Flüchtlingen. Der humanitäre Imperativ, von dem Frau Merkel vor Monaten noch gesprochen hat, ist endgültig vergessen. Die EU insgesamt verkauft hier ihre Seele und verrät ihre Werte.

Werden die Menschen ihre Rückführung hinnehmen?

Roth: Nein, ich rechne mit schlimmen Situationen. Denn die, die es auf die griechischen Inseln oder bis Idomeni geschafft haben, sind völlig verzweifelt. Manche werden sagen, dass sie außer ihrem Leben nichts mehr zu verlieren haben. Und dann wird es dramatisch. Stellen sie sich jemanden vor, der die Hölle von Aleppo überlebt hat und nun zurück soll. Er hört, dass die Türkei Flüchtlinge sogar wieder in das Kriegsland Syrien abschiebt. Die Rückführungen jetzt zu starten ist angesichts dieser Informationen, aber auch mit Blick auf die ungeklärten asylrechtlichen Fragen absolut unverantwortlich. Die Maßnahme muss ausgesetzt werden.

Aber war nicht klar, dass der Zustrom so nicht anhalten konnte?

Roth: Nein. Die Europäische Union hätte auch entscheiden können - und müssen -, gemeinsam Verantwortung für die von Krieg und Vertreibung Betroffenen zu übernehmen und die Genfer Flüchtlingskonvention zu respektieren. Stattdessen begibt sie sich nun in eine fatale Abhängigkeit von dem Autokraten Erdogan. Der EU-Türkei-Vertrag ist ein maliziöses Werk, das das Recht beugt, nationalen Egoismen folgt und internationale Verantwortung verweigert. Es ist beschämend und realitätsfern, dass Europa sich dazu entschieden hat, das Elend nur noch durch Zäune und Mauern zu betrachten.

Der Plan sieht ja vor, im Verhältnis eins zu eins direkt Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa einreisen zu lassen. Man will so die Schlepper aushebeln.

Roth: Das ist ein perfides System. Erst werden alle Menschen in Griechenland interniert. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und viele andere sind deswegen dort abgezogen, weil sie eine so schmutzige Politik nicht mitmachen wollen. Das hat es noch nie gegeben. Dann werden die eingesperrten Menschen in die Türkei zurückgeschoben, und im Gegenzug werden andere in die Europäische Union umgesiedelt. Das ist doch absurd. Und die geplante Zahl von 72 000 Syrern, die man dann direkt aus der Türkei abnehmen will, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ganz zu schweigen davon, dass alle Iraker und Afghanen davon ausgeschlossen sind, obwohl es in beiden Ländern entgrenzte Gewalt und Bedrohungen gibt. Es ist ein zynisches Spiel.

Was wäre denn Ihre Alternative in der Flüchtlingspolitik?

Roth: Erstens legale Wege zur Flüchtlingsaufnahme eröffnen. Das Vorgehen jetzt wird doch nur dazu führen, dass noch gefährlichere Fluchtwege gegangen werden mit noch mehr Toten. Zweitens die Bekämpfung der Fluchtursachen nachhaltig und glaubwürdig verstärken und drittens die Etablierung eines europäischen solidarischen Systems. Ich weiß, dass es unglaublich egoistische nationale Verweigerungshaltungen in Europa gibt, aber man darf nicht aufgeben, dagegen anzugehen. Die Staaten, die noch einen Rest an Verantwortungsgefühl haben, müssen vorweggehen, auch Deutschland.

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