Preis-Explosion In der Türkei droht ein Zwiebel-Aufstand

Istanbul · Präsident Erdogan sieht sich derzeit dem Unmut seiner Landsleute wegen Preisanhebungen ausgesetzt – und reagiert mit Schau-Razzien.

Woanders reden die Leute übers Wetter – in der Türkei reden derzeit alle über Zwiebeln. „Letztes Jahr kostete ein Kilo noch um die drei Lira“, also etwa 50 Cent, sagt ein Istanbuler Gemüsehändler. „Dieses Jahr waren es zeitweise zehn Lira.“ Zwiebeln sind unverzichtbar für die türkische Küche – egal ob arm oder reich. Deshalb sind viele Verbraucher sauer auf die Regierung. „Die Leute beschweren sich sehr“, sagt ein anderer Krämer. „Die Inflation ist eh schon hoch genug.“ Nun hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan die Zwiebeln zur Chefsache erklärt, denn er fürchtet einen Denkzettel bei der Kommunalwahl im März.

Eine Missernte, hohe Ausfälle durch schlechte Lagerung, dazu zahlreiche Zwischenhändler auf dem Weg vom Bauern zum Verbraucher – es gibt viele Gründe dafür, dass Zwiebeln so teuer geworden sind, sagen Experten. Hinzu kommt eine Jahresinflation von 25 Prozent, der höchste Stand seit 15 Jahren. Am Wetter kann die Regierung nichts ändern, wohl aber an der Wirtschafts- und Finanzpolitik, die den Wert der Lira 2018 um zeitweise 40 Prozent gegenüber dem US-Dollar abstürzen ließ und mitverantwortlich für die hohe Inflation ist. Millionen Türken, die mit dem Mindestlohn von umgerechnet 270 Euro netto auskommen müssen, wissen nicht mehr, wo sie das Geld hernehmen sollen.

Erdogan sieht die Schuld an den Missständen bei hinterhältigen Verschwörern, ähnlich wie schon beim Einbruch des Lira-Kurses im Sommer. Der Präsident hat Großhändlern den Kampf angesagt, die angeblich Zwiebeln horten, um die Preise hochzutreiben. Razzien in Lagerhäusern sollen die Wähler beruhigen.

Eine reine Schauveranstaltung, sagen Kritiker wie der Journalist Mirgün Cabas. Er rechnete auf Twitter vor, dass selbst die Beschlagnahmung von 100 Tonnen Zwiebeln in Lagerhäusern angesichts einer Jahresproduktion von zwei Millionen Tonnen das Problem kaum lösen könne. Der Agrar-Experte Ali Ekber Yildirim befürchtet, dass Zwiebeln wegen der Razzien bald noch teurer werden. Erst im April werde wieder geerntet, twitterte er. Wenn aber auf Befehl der Regierung schon jetzt alle Lagerhäuser leergeräumt würden, stelle sich die Frage: „Was sollen wir bis dahin essen?“

Erdogan handelt beim Zwiebel-Problem wie seine Regierung bei der Inflationsbekämpfung insgesamt: Ankara will Probleme verbieten. Präsidenten-Schwiegersohn und Finanzminister Berat Albayrak hat führende türkische Unternehmen zu Preissenkungen verdonnert, um die Geldentwertung zu bremsen. Der Unmut der Wähler über die Inflation könnte Erdogans Partei AKP bei den Kommunalwahl einige Probleme bereiten. Laut Umfragen sehen drei von vier Bürgern das Land in einer Krise – während Erdogan von Angriffen auf eine an sich kerngesunde Volkswirtschaft spricht. Jedoch machen immer häufiger Meldungen über Unternehmenskonkurse die Runde.

Erdogans Antwort darauf besteht nicht in strukturellen Reformen, wie sie von vielen Fachleuten gefordert werden, sondern in staatlichen Konjunkturprogrammen. Mit einer neuen „Mobilmachung für Beschäftigung und Investitionen“ will er die Wirtschaft ankurbeln – wie er das bezahlen will, hat er bisher nicht verraten. Manche Kritiker vermuten, dass die Regierung den Türken erst nach der Kommunalwahl die Rechnung präsentieren wird.

Bei der Vorbereitung auf die Wahl setzt Erdogan wie immer auf Polarisierung: Er will seine Anhänger motivieren, indem er Andersdenkende verteufelt. Die Wähler der Oppositionspartei CHP seien Leute, die „vom Kuchen nur die Sahne essen“, sagte der Präsident gestern. Der CHP-Politiker Muharrem Ince konterte, das sei eine seltsame Äußerung für einen Mann, der in einem 1000-Zimmer-Palast residiere und mit einem neuen Dienstflugzeug für 500 Millionen Dollar durch die Gegend fliege.

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