Entschädigung für Ex-Sicherungsverwahrte

Karlsruhe. Schmerzensgeld für verurteilte Sexual- und Gewaltverbrecher? Zuhörer im Gerichtssaal reagierten empört. Und doch steht es den vier Straftätern zu, denen das Karlsruher Landgericht gestern 240 000 Euro Entschädigung wegen zu langer Haftzeit zusprach. Denn auch ihnen ist Unrecht geschehen

 Einblick in den Gefängnisalltag: Vier Männer saßen durch verlängerte Sicherungsverwahrung zu lange in Haft, entschied gestern das Karlsruher Landgericht. Sie erhalten Schmerzensgeld. Foto: Seeger/dpa

Einblick in den Gefängnisalltag: Vier Männer saßen durch verlängerte Sicherungsverwahrung zu lange in Haft, entschied gestern das Karlsruher Landgericht. Sie erhalten Schmerzensgeld. Foto: Seeger/dpa

Karlsruhe. Schmerzensgeld für verurteilte Sexual- und Gewaltverbrecher? Zuhörer im Gerichtssaal reagierten empört. Und doch steht es den vier Straftätern zu, denen das Karlsruher Landgericht gestern 240 000 Euro Entschädigung wegen zu langer Haftzeit zusprach. Denn auch ihnen ist Unrecht geschehen. "Freiheit ist das zweitwichtigste Gut nach dem Leben", sagt der Strafrechtler Thomas Ullenbruch aus Emmendingen, ein Experte für Sicherungsverwahrung. Genau dieses hohe Gut sei den Männern nach Verbüßung ihrer eigentlichen Haftstrafe genommen worden, als ihre Sicherungsverwahrung rückwirkend verlängert wurde.Das Landgericht sprach den vier Klägern zwischen 49 000 und 73 000 Euro Schadenersatz pro Person zu. Die Männer waren bis zu zwölf Jahre zu lange im Gefängnis gewesen: Kurz vor ihrer Entlassung wurde ihre Sicherungsverwahrung auf unbefristete Zeit verlängert. Erst 2009 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMGR) dieses Vorgehen als rechtswidrig. Wenig später folgte ihm das Bundesverfassungsgericht. Das Schmerzensgeld muss das Land Baden-Württemberg bezahlen, das die Männer verklagt hatten.

Nach der Gesetzesänderung von 1998, mit der Deutschland die unbefristete Sicherungsverwahrung ermöglichte, hatte zunächst auch das Bundesverfassungsgericht 2004 dieses Vorgehen für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt. Strafrechtler Ullenbruch weist allerdings darauf hin, dass die Entscheidung der Verfassungsrichter damals mit 6:2 Stimmen gefallen sei. Bedenken seien also durchaus geäußert worden - auch mit Blick auf den Vertrauensschutz. "Ich bin deshalb überrascht, wenn das Schmerzensgeld-Urteil irgendjemanden überrascht." Er habe in einer Rechtszeitschrift schon 1998 auf die äußerst problematische Rechtslage verwiesen: "Das Rückwirkungsverbot ist eine heilige Kuh des Rechtsstaates." In Deutschland war darauf bis zum Straßburger Urteil wenig Rücksicht genommen worden.

Baden-Württemberg will auf jeden Fall in Berufung gehen. "Wir brauchen eine höchstrichterliche Klärung", sagt der Rechtsvertreter des Landes, Thomas R. Hannemann. Denn weitere Klagen werden kommen. Verschiedenen Schätzungen zufolge könnte es in Deutschland noch 80 bis 100 ähnliche Fälle geben.

Bis das Land tatsächlich zahlen muss, könnten Jahre vergehen. Die Männer, heute schon zwischen 55 und 64 Jahre alt, werden möglicherweise nicht mehr allzu viel davon haben.

Meinung

Starker Rechtsstaat

Von SZ-KorrespondentStefan Vetter

Schmerzensgeld für Verbrecher, die wegen Vergewaltigung und versuchten Mordes verurteilt wurden? Diese Nachricht dürften viele Bürger mit Unverständnis quittieren. Trotzdem ist dem Landgericht Karlsruhe nichts vorzuwerfen. Denn auch den schlimmsten Straftätern steht hierzulande eine rechtsstaatliche Behandlung zu. Genau die war aber nicht gegeben, als deren Sicherungsverwahrung im Nachhinein praktisch bis zum St. Nimmerleinstag ausgedehnt werden konnte. So mussten die vier Kläger bis zu zwölf Jahre länger hinter Gittern verbringen - bis ein europäisches Gericht entschied, dass dies einer mehrfachen Bestrafung gleichkomme und deshalb abgeschafft gehört. Nicht für ihre Untaten, sondern für eine rechtswidrige Entscheidung der Politik bekommen die vier Betroffenen nun also eine Entschädigung.

Hintergrund

 Einblick in den Gefängnisalltag: Vier Männer saßen durch verlängerte Sicherungsverwahrung zu lange in Haft, entschied gestern das Karlsruher Landgericht. Sie erhalten Schmerzensgeld. Foto: Seeger/dpa

Einblick in den Gefängnisalltag: Vier Männer saßen durch verlängerte Sicherungsverwahrung zu lange in Haft, entschied gestern das Karlsruher Landgericht. Sie erhalten Schmerzensgeld. Foto: Seeger/dpa

Das Urteil des Karlsruher Landgerichts hat keine Auswirkungen auf den Fall des früheren Sexualstraftäters Walter H. "Die vorliegenden Fälle unterscheiden sich zu stark", teilte der Anwalt des 62-Jährigen mit. Die Karlsruher Kläger hätten bis zu zwölf Jahre in Sicherungsverwahrung verbracht. Die Sicherungsverwahrung gegen Walter H. sei hingegen nie rechtskräftig geworden. Walter H. ist derzeit auf Anordnung des Landgerichts Saarbrücken in der forensischen Psychiatrie in Merzig untergebracht. Dagegen hat H. Beschwerde eingelegt. Walter H. soll morgen vor dem Oberlandesgericht Saarbrücken angehört werden. fre

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