Endzeitstimmung in London

Sie wollen gehen – bye bye Europe, wir machen alleine weiter. Oder lieber doch nicht? Nach dem Brexit-Votum liegen all die Probleme auf dem Tisch, vor denen viele die Briten seit Monaten gewarnt haben. Das Bedauern kommt wohl zu spät. Die EU-Spitzen bestehen auf dem Austritt.

Mandy dachte, ihre Stimme hätte kein Gewicht. Adam war der Meinung, sein Votum zähle nicht. Lauren erging es ebenso. Hazel auch. Alle vier sind in den 20ern und haben beim Referendum am Donnerstag für den Austritt gestimmt. Und nun? Sind sie am Boden zerstört, nachdem das Pfund abgestürzt ist, die Wirtschaft gefährlich zu wackeln beginnt, Premierminister David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat und es um nichts weniger als um die Zukunft des Königreichs geht.

Großbritannien als ein Land im Schock zu bezeichnen, dürfte die Untertreibung des Jahres sein. Völlige Fassungslosigkeit lähmt seit Freitag das Königreich, das politische System, die Menschen auf der Straße. Noch immer kann kaum jemand glauben, was geschehen ist. Selbst viele EU-Gegner hatten trotz der Umfragen, die im Vorfeld des Referendums ein knappes Rennen prophezeit hatten, nicht damit gerechnet. Zu klar schien es für den Großteil der Briten, dass es beim Status Quo bleiben würde. Doch nach monatelangem Kampagnen-Theater trifft die Briten jetzt die Realität. "Es herrscht ein absolutes Chaos", heißt es aus regierungsnahen Kreisen.

Sie haben es nicht so gemeint, entschuldigen sich die Mandys, Adams, Laurens und Hazels dieses Landes, und würden ihre Entscheidung gerne rückgängig machen. Sie gehören zu den etlichen sogenannten "Bregretters", ein Wortspiel aus Regret (Bedauern) und Britain, die sich nun melden. Andere fühlen sich schlichtweg betrogen von den Wortführern der "Leave"-Kampagne, den Konservativen Boris Johnson und Michael Gove sowie dem Chef der rechtspopulistischen Unabhängigkeitspartei Ukip, Nigel Farage, der sich bereits am Freitagmorgen von einem der zentralen Versprechen der Brexiteers distanziert hat. Danach hieß es, 350 Millionen Pfund sollten künftig jede Woche in das nationale Gesundheitssystem fließen anstatt nach Brüssel. "Ich habe fürs Gehen gestimmt, weil ich diese Lügen geglaubt habe und ich bereue es mehr als alles andere", schreibt die Britin Katy unter dem Hashtag #WhatHaveWeDone auf Twitter . Als das Boulevardblatt "Daily Mail", das mit der "Sun" am lautesten für den Brexit getrommelt und dafür vor allem Ängste gegen Einwanderung geschnürt hat, in einem Bericht die Folgen aufzeigt, löst das einen Sturm der Entrüstung aus. "Die Remain-Kampagne hat also die Wahrheit erzählt", beschwert sich Victor aus Leeds.

Überhaupt, wo versteckten sich am Wochenende Boris, wie er nur genannt wird, und Farage? Statt Siegesfeiern nur Stille. Und wo blieb ihr Plan fürs Brexit-Paradies, das sie im Wahlkampf ständig in leuchtenden Farben aufmalten, ohne konkret zu werden? Dabei wurden sie sogleich mit ihren Aussagen konfrontiert. So bestand beispielsweise Cornwall, das mitunter am meisten Geld aus den Fördertöpfen der EU eingestrichen und dennoch mehrheitlich für den Brexit gestimmt hat, nur wenige Stunden nach dem Votum auf Ausgleichszahlungen aus der britischen Staatskasse. Wie versprochen von Johnson und Co. Doch in diesem hoch emotionalisierten Wahlkampf voller Propaganda war so vieles versprochen worden.

Auf den Straßen und im Internet organisiert sich dagegen die Protestbewegung. Mehr als drei Millionen Menschen haben bis Sonntagnachmittag eine offizielle Petition unterzeichnet, in der sie ein zweites Referendum fordern. Zudem wurde eine weitere Petition aufgesetzt, die die Unabhängigkeit Londons erreichen will. Dort hatte die überwiegende Mehrheit ebenfalls für den Verbleib gestimmt.

In den vergangenen Tagen demonstrierten vor allem junge Menschen voller Wut gegen den Brexit. "Ich bin nicht Britin, sondern Europäerin", stand auf Plakaten, Viele Jüngere fühlen sich von der älteren Generation um ihre Zukunft betrogen. Verraten. Verkauft. Die Zahlen geben ihnen Recht. 64 Prozent der 18- bis 24-Jährigen votierten für den EU-Verbleib. Dagegen stimmten 58 Prozent der über 65-Jährigen für den Brexit. "Das Ergebnis trägt die Spuren falscher Zähne", monierte der Schauspieler Sam Neill. Gleichwohl zeigt es, welcher Riss sich durch die Gesellschaft zieht. Es handelt sich nicht nur um einen Generationenkonflikt, sondern um einen Kulturkampf, der Land und Leute spaltet.

Meinung:

Zu spät aufgewacht

Von SZ-Korrespondentin Katrin Pribyl

Am Freitag sind zahlreiche Briten im wahrsten Sinne des Wortes aufgewacht - nachdem die ersten Schockwellen das Land überzogen hatten, ganz so, wie es Experten prophezeit haben. Waren all die Warnungen also doch nicht so falsch? Plötzlich wimmelte es in den sozialen Medien vor Menschen, die ihr "Leave"-Votum bereuten. Die, könnten sie nochmals wählen, für den Verbleib in der EU stimmen würden. Die Reaktion einiger Brexit-Wähler schreit zudem vor Naivität. Es überrascht nicht, dass die Wut und Frustration der Europafreunde groß ist. Gleichwohl haben viele Menschen erst jetzt erkannt, dass dieses Referendum reichlich ungeeignet war, der Politik eins auszuwischen. Nun könnte die Entscheidung wie ein Bumerang zurückschnellen und ausgerechnet die Protestwähler treffen - jene Menschen, die sich von der Regierung im Stich gelassen fühlen.

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