Einigung ohne Einigkeit

Milliardenplus beim Honorar und trotzdem Ärzteprotest: Wie passt das zusammen? Es sind zwar nicht zehntausende, aber doch tausende Mediziner und Angestellte, die keine 24 Stunden nach der Honorareinigung in mehreren Städten Deutschlands teils mit Transparenten und Trillerpfeifen auf die Straße gehen

Milliardenplus beim Honorar und trotzdem Ärzteprotest: Wie passt das zusammen? Es sind zwar nicht zehntausende, aber doch tausende Mediziner und Angestellte, die keine 24 Stunden nach der Honorareinigung in mehreren Städten Deutschlands teils mit Transparenten und Trillerpfeifen auf die Straße gehen.

Im vergangenen Jahr gaben die gesetzlichen Krankenkassen für die rund 150 000 niedergelassenen Mediziner und Psychotherapeuten laut Bundesgesundheitsministerium 33,7 Milliarden Euro aus. Zwischen 1,15 und 1,27 Milliarden wird es im kommenden Jahr mehr geben. Doch der anhaltende Protest der Ärzte und ihrer Verbände macht deutlich: Auch zwei oder drei Milliarden mehr würden wohl den Zorn nicht dämpfen. Ihr Vertrauen in das ganze Honorarsystem ist grundlegend erschüttert.

"Der Arzt wird getreten", wettert ein 49-jähriger Orthopäde aus Berlin-Mitte. Er hat sich mit seinen Praxishelferinnen und rund 100 Gleichgesinnten in den Nieselregen vor die Zentrale des Kassen-Spitzenverbands nahe der Prachtmeile Unter den Linden gestellt. Die Kassen bereicherten sich nur noch. "Ich muss für jeweils 18 Euro im Quartal die Patienten behandeln." Den von der Praxiseröffnung gebliebenen Schuldenberg müsse er bis zum Rentenalter abzahlen. Aber kommen die Orthopäden nicht laut Kassenärztliche Vereinigung (KBV) auf durchschnittlich 6344 Euro netto im Monat? "Sie wissen, wie leicht man eine Statistik fälscht", wettert der Mediziner in Richtung seiner Standesvertretung. Die Ärzte fühlen selbst von ihren eigenen Vertretern, der KBV, verraten. Warum? Zweieinhalb Kilometer weiter, vor der Zentrale der Techniker Krankenkasse, rollt der Hausarzt Holger Wloch gerade sein Plakat ein. Auch Wloch will nicht länger in Pauschalen pro Patient und Quartal bezahlt werden - sondern in festen Preisen. "Leben kann ich davon nur, weil mein Hamsterrad schnell läuft und mein Arbeitstag lang ist."

100 geschlossene Arztpraxen in Hamburg, mindestens 150 in Niedersachsen, 250 Demonstranten in Neumarkt in der Oberpfalz, 100 in Mainz - die breite Masse der Mediziner beteiligte sich wohl nicht am Aktionstag, auch wenn die Organisatoren von zehntausenden Praxen sprachen. Doch die große Unzufriedenheit in der Zunft ist spürbar.

Warum bekommen Ärzte nicht wie gewünscht für jede Leistung einen fixen Preis? Experten befürchten, dass Mediziner dann viel mehr behandeln würden, egal ob es nötig ist oder nicht. Also brauche es eine Mischung aus pauschaler und leistungsbezogener Bezahlung. Doch das derzeitige, über Jahre hinweg immer wieder nachgebesserte Honorarsystem ist inzwischen so kompliziert und verschachtelt, dass außer wenigen Spezialisten kaum noch jemand mehr wirklich durchblickt.

Was nun bei welchen Ärzten ankommt, ist noch nicht wirklich klar. Grundsätzlich sollen nun die Preise für Arzt-Leistungen um 270 bis 290 Millionen Euro steigen. Haus- und Fachärzte sollen für die Grundversorgung 250 Millionen mehr bekommen. Zuschläge für förderungswürdige Leistungen im Umfang von bis zu 450 Millionen Euro sollen fließen. Für die Psychotherapeuten wird ein Extratopf von zunächst rund 130 Millionen Euro aufgemacht - die Bezahlung ihrer immer aufwendigeren Therapien geht künftig nicht mehr zulasten anderer Ärzte.

Also ein Ergebnis, dass sich sehen lassen kann? "Auf jeden Fall", sagt der Essener Gesundheitsökonom Jürgen Wasem. Er verteidigt gegenüber der Saarbrücker Zeitung die von ihm als Schlichter maßgeblich erarbeitete Lösung bei den Arzt-Honoraren. Der Kompromiss setze "gezielte Impulse für die Versorgung der Patienten", sagt Wasem. Die gestrigen Streiks kritisiert er scharf: "Dass da Ärzte Patienten für politische Forderungen in Geiselhaft nehmen, halte ich nicht für richtig."

Das Interview in voller Länge steht auf der SZ-Webseite unter unter www.saarbruecker-zeitung/berliner-buero.

Meinung

Kompromiss in

letzter Minute

Von SZ-Korrespondent

Stefan Vetter

Der Kompromiss zur künftigen Honorarhöhe für die rund 150 000 niedergelassenen Ärzte kam spät, aber rechtzeitig genug, um Praxisschließungen in ganz großem Stil zu verhindern. Nur wenige tausend Mediziner hielten gestern an ihren Protesten fest. Dem Patienten muss auch das befremdlich erscheinen. Gut eine Milliarde Euro mehr für die Praxisärzte, das ist üppig. Der Eindruck vom raffgierigen Halbgott in Weiß wird dadurch jedenfalls nicht zerstreut. Freilich ist er nicht ganz berechtigt. Mittlerweile weiß wohl auch der interessierte Laie, woran es wirklich hakt: Die Unzufriedenheit vieler Ärzte resultiert aus der ungerechten Verteilung der Honorar-Milliarden. Während in Praxen mit teurer Apparate-Medizin sehr gut verdient wird, müssen sich Hausärzte mit einem eher mäßigen Salär begnügen. Und das obwohl gerade die "sprechende Medizin" dem Patienten häufig mehr hilft als der letzte Schrei der Technik.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort
Unser Ort hat viele Gesichter - heute HoofDie Saarbrücker Zeitung zeigt, wie viele Gesichter unsere Ortsteile haben. Die Menschen sind zu den Terminen gekommen und haben tolle Bilder für ihren Ort abgegeben. Von den St. Wendeler Ortsteilen präsentieren wi
Unser Ort hat viele Gesichter - heute HoofDie Saarbrücker Zeitung zeigt, wie viele Gesichter unsere Ortsteile haben. Die Menschen sind zu den Terminen gekommen und haben tolle Bilder für ihren Ort abgegeben. Von den St. Wendeler Ortsteilen präsentieren wi