Eine verhängnisvolle Ohrfeige

Darmstadt · Es war ein Verbrechen, das Tausende aufwühlte: Eine hübsche, junge Frau hilft Mädchen, die belästigt werden, und wird daraufhin totgeschlagen. Der Prozess färbte das Schwarz-Weiß-Bild jedoch mit Zwischentönen ein.

 Den Kopf versteckt hinter einem Briefumschlag betritt der Angeklagte Sanel M. am Morgen den Gerichtssaal in Darmstadt. Fotos: Roessler/dpa

Den Kopf versteckt hinter einem Briefumschlag betritt der Angeklagte Sanel M. am Morgen den Gerichtssaal in Darmstadt. Fotos: Roessler/dpa

Als Sanel M. den Gerichtssaal im rosa Pullover und mit einem großen Briefumschlag vor dem Gesicht betritt, umringen ihn sofort seine Verteidiger. Sie schirmen den Angeklagten vor den wartenden Fotografen und TV-Kameras ab. Es ist ein sinnbildlicher Akt, wie die Anwälte den 18-Jährigen im Prozess um die getötete Tugce Albayrak ein letztes Mal versuchen zu schützen. Ihr Mandant ist für seinen verhängnisvollen Schlag in der Nacht des 15. November auf dem Parkplatz einer Offenbacher McDonald's-Filiale schon vor Prozessbeginn öffentlich verurteilt worden, manche Medien zeigten ungepixelte Bilder, nannten ihn den Koma-Schläger. Die Fotografen können Sanel M.s Anwälte noch abwehren, nicht aber die Verurteilung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge.

Mit ruhiger Stimme verkündet Jens Aßling, der Vorsitzende Richter, das Urteil der Großen Strafkammer am Landgericht Darmstadt . Eine junge Frau im Zuschauerraum schluchzt auf und beginnt zu weinen. Sanel M. nimmt die Worte des Richters regungslos auf - wie zuvor fast alles im Prozess gegen ihn. "Der Angeklagte ist nicht der Killer, zu dem ihn eine große Zeitung gemacht hat", sagt Aßling. Am Anfang habe es eine wahre Kampagne einer großen Zeitung gegeben, der Sanel M. ausgeliefert gewesen sei und deren Sichtweise viele blind gefolgt seien. Damit meint der Richter auch Bundespräsident Joachim Gauck : "Es ist schwierig für ein Gericht, wenn sich oberste Repräsentanten eines Landes äußern und Schuldzuweisungen verteilen." Das sei nicht in Einklang zu bringen mit staatlicher Neutralität.

Aßling holt nicht zum Rundumschlag aus, aber er holt weit aus, bevor er zum ausschlaggebenden Punkt für das Urteil in diesem viel beachteten Prozess kommt: "Der Angeklagte wollte Tugce Albayrak ordentlich eine langen", ist Aßling überzeugt. Und wer jemandem ins Gesicht schlage, müsse damit rechnen, dass diese Person stürzt. Wer stürze, könne wiederum mit dem Kopf auf den Boden schlagen und sich schwere Kopfverletzungen zuziehen. "Das muss der Angeklagte wissen, das muss er sich zurechnen lassen."

Die Verteidiger von Sanel M. teilen nach der Urteilsverkündung mit, dass sie ihrem Mandanten empfehlen würden, den Richterspruch anzufechten und in die Revision zu gehen. In ihren Plädoyers hatten die Anwälte noch darauf verwiesen, dass die Ohrfeige - wie sie Sanel M. Tugce Albayrak verpasst habe - bis vor einigen Jahren in Deutschland noch ein zulässiges Erziehungsmittel gewesen sei. Da die Todesfolge keinesfalls absehbar gewesen sei, hatten sie eine Bewährungsstrafe für ihren Mandanten gefordert.

"Der Angeklagte hat Tugce Albayrak einen ausholenden Schlag verpasst", erwidert der Richter Jens Aßling in seiner Urteilsbegründung. Eine Ohrfeige beschreibe Sanel M.s Tat nicht ausreichend. Der Angeklagte neige dazu, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Das zeigten auch seine Vorstrafen. Sanel M. sei ein unausgereifter junger Mann, der viele Entwicklungsschritte verpasst habe und dessen "schädlichen Neigungen" in der Jugendhaft durch Anti-Aggressions-Training zu behandeln seien.

Als Sanel M. aus dem Gerichtssaal geführt wird, ruft eine Frau seinen Namen. Sie könnte seine Mutter sein. Kurz schaut er hinüber zu ihr. Nicht einmal ein Gruß ist von seinem Gesicht abzulesen. Seine Mimik bleibt starr. Dann ist er verschwunden.

Wie lange der 18-Jährige im Gefängnis bleiben wird, erklärt vor dem Gerichtssaal Oberstaatsanwalt Alexander Homm: "Nach der Hälfte der Haftdauer wird eine Aussetzung der Haft geprüft." Die Entscheidung darüber hänge allerdings von der Mitarbeit Sanel M.s ab. An Homm vorbei drücken sich Tugces Eltern und ihr Bruder Dogus wortlos durch die Menschenmasse vor dem Gerichtssaal.

Für sie tritt Nebenklageanwalt Macit Karaahmetoglu vor die Kameras. "Das Gericht hat eine klare Sprache gefunden und die Tat nicht bagatellisiert." Die Familie Albayrak sei erleichtert, dass der Prozess nun zu Ende sei. Dass es noch nicht das Ende in diesem Fall gewesen sein könnte, kündigt ein paar Meter weiter Sanel M.s Verteidiger Stephan Kuhn an. Die beispiellose Vorverurteilung von Sanel M. sei im Urteil nicht ausreichend gewürdigt, die Strafe zu hoch. "Wir werden unserem Mandanten eine Revision nahelegen."

 Trauer und Verzweiflung sind der Mutter der toten Tugce (l.) auch nach dem Schuldspruch ins Gesicht geschrieben.

Trauer und Verzweiflung sind der Mutter der toten Tugce (l.) auch nach dem Schuldspruch ins Gesicht geschrieben.

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HintergrundIm Mittelpunkt des Jugendstrafrechts steht die Erziehung und nicht die Bestrafung. Voraussetzung für die Verurteilung eines Heranwachsenden nach dem Jugendstrafrecht ist eine jugendtypische Tat oder die verzögerte Reife der Persönlichkeit des Angeklagten. Heranwachsend ist, wer zur Tatzeit 18 bis 20 Jahre alt war. Eine weiteres Kriterium für eine Jugendstrafe ist die Feststellung "schädlicher Neigungen". Maßgeblich dafür sind unter anderem frühere Straftaten. Sechs Monate bis zehn Jahre Jugendgefängnis können verhängt werden, bei Mord auch bis zu 15 Jahre. Beim Anklagevorwurf Körperverletzung mit Todesfolge beträgt die Mindeststrafe nach dem Erwachsenenstrafrecht drei Jahre. dpa

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