Eine halbe Jahrhundert-Diskussion

London · Der berühmteste (Nicht-)Treffer der Fußball-Geschichte feiert heute Geburtstag. Vor 50 Jahren verloren die Deutschen in der Verlängerung das WM-Finale gegen England durch zwei Tore von Hurst, die wohl beide irregulär waren.

Seit 50 Jahren wird Geoff Hurst dieselbe Frage gestellt: "War der Ball über der Linie?" Überraschenderweise variiert seine Antwort. Das könnte erstens daran liegen, dass er sich nicht selbst langweilen möchte. Oder aber er will eben das seinem Publikum ersparen. Der Grund könnte jedoch auch sein, dass er für ein Interview 3000 bis 5000 Euro verlangt. Immerhin sei er "extremely busy", wie sein Management auf Anfrage schreibt. Wer will für dieses Geld schon immer dieselbe Geschichte hören? Manchmal, wenn auch selten und eher in früheren Jahren, zeigte sich der Fußballer nicht ganz sicher. Zuletzt aber war keine Spur von Zweifeln zu erkennen: "Der Ball war drin", verlautbarte er in englischen Medien.

So schafft es der heute 74-Jährige seit Jahrzehnten in die Schlagzeilen. Schließlich geht es um das berühmteste Tor der Fußball-Geschichte, das legendäre 3:2 im WM-Finale 1966 im Londoner Wembley-Stadion, als die englische Nationalelf Deutschland in der Nachspielzeit schlug und damit die Träume von Haller, Seeler, Beckenbauer und Co. platzen ließ. Das Wembley-Tor am 30. Juli: aus deutscher Sicht ein Nicht-Treffer. Im Mutterland des Fußballs wurde es jahrzehntelang zwar heiß diskutiert, aber wer will schon den letzten großen Titel der Three Lions in Frage stellen? Erst im Januar will der TV-Sender Sky mit einer besonderen Technologie bewiesen haben, dass der Ball die Linie überschritten hat. "Die Deutschen können sich nie wieder beschweren", sagte daraufhin der Sky-Experte und Ex-Kicker Jamie Carragher. "Das war nicht mal knapp." Zugegeben, auf den Sky-Bildern sieht es tatsächlich aus, als wäre der Ball zwar nicht "meilenweit" hinter der Linie, wie Hursts Ehefrau meinte, aber doch deutlich. Andere Untersuchungen, sie stammen kaum überraschend zumeist vom Kontinent, ergaben dagegen, dass der Treffer irregulär war.

Was in der ganzen Diskussion meist unerwähnt bleibt: Auch das vierte Tor der Engländer hätte nicht zählen dürfen. Während Hurst auf das deutsche Tor zusprintet, tauchen am Rand Zuschauer auf dem Feld auf. "Da sind einige Leute auf dem Platz", ruft der englische Kommentator Kenneth Wolstenholme in sein Mikrofon. Dann die berühmten Worte, die auf der Insel Kultstatus haben: "They think it's all over... It is now." Der Ball landet im Netz, das Spiel wird abgepfiffen und England steht an der Spitze des weltweiten Fußballs. Kurioserweise beschwert sich keiner der Deutschen über den irregulären Treffer und auch im britischen Fernsehen wird die Ungerechtigkeit galant übergangen.

Bis heute ist es stets das Wembley-Nichttor, das für Furore sorgt. Es ist der Glücksfall im Leben des Geoff Hurst, der deshalb sowohl geadelt wurde als auch vom Ruhm seines Hattricks leben kann. Ein Tor erzielte er bereits in den ersten 90 Minuten. Doch der Heldenstatus scheint zu verblassen. Kürzlich sollte sein Trikot mit der Nummer 10 bei Sotheby's einen neuen Besitzer finden. Beim Auktionshaus hatte man erwartet, dass für das Stück Stoff eine Summe zwischen 350 000 und 600 000 Euro geboten würde. Doch das Heldenhemd entpuppte sich als Flop. Es erreichte nicht mal den Mindestpreis.

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Hintergrund Das dritte Tor von Wembley für England gilt als das umstrittenste der deutschen WM-Geschichte. Vergessen wurde darüber fast das ebenfalls irreguläre Tor Englands zum 4:2. Doch auch bei deutschen WM-Siegen konnten Gegner mit Schiedsrichter-Pfiffen hadern - wie alte TV-Bilder zeigen. Gern verdrängt wird, dass das historische 3:2 von Helmut Rahn im Finale von Bern wohl nicht das letzte reguläre Tor des Spiels war. Kurz vor Schluss traf Ferenc Puskas für Ungarn. Filmausschnitte legen nahe: Die Abseits-Entscheidung des Linienrichters war falsch. Ob es nach einem 3:3 noch das ,,Wunder von Bern" gegeben hätte? Die Argentinier können mit Recht sagen, dass der Elfmeter, der 1990 zum 1:0-Sieg der (überlegenen) Deutschen im WM-Finale von Rom führte, ein Geschenk nach einem leichten Faller Rudi Völlers war. Andererseits verliert das ewige Lied holländischer Fans, die Deutschen hätten im WM-Finale 1974 nur knapp mit 2:1 gewonnen, an Kraft, wenn man weiß: In der 56. Minute traf Gerd Müller eigentlich zum 3:1 - und stand klar nicht abseits, wie es Schiedsrichter Taylor entschied. ulb

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