Eine „doppelte“ Regierungserklärung zur Türkei-Krise

Berlin · Kanzlerin Merkel kritisierte im Bundestag die Nazi-Vorwürfe aus Ankara. Noch deutlicher wurde allerdings Bundestagspräsident Lammert in seiner Rede.

Für Angela Merkel ist das alles längst Routine. Doch es gibt auch noch Überraschungen. Eine "Regierungserklärung" will die Kanzlerin am Morgen im Bundestag halten. Diesmal zum EU-Gipfel, der am Nachmittag in Brüssel beginnt. Bei dem Treffen geht es um eine klare Ansage gegen die Abschottungspolitik der USA, um die Flüchtlingskrise, aber natürlich auch um die zerrüttete EU. Deutschland indes scheint derzeit nur ein Thema zu kennen: die angespannte Beziehung zur Türkei und die provokanten Wahlkampfauftritte türkischer Regierungsvertreter. So kommt es auch zu dem ungewöhnlichen, aber gleichwohl mit allen Bundestagsparteien abgestimmten Vorgang, dass Parlamentspräsident Norbert Lammert zunächst selbst eine Art Regierungserklärung abgibt, bevor er Merkel das Wort zu der ihrigen erteilt.

In der Regierungserklärung der Kanzlerin, ganz sicher aber in der drauffolgenden Debatte, werde es auch um das deutsch-türkische Verhältnis gehen, sagt Lammert im Brustton tiefster Überzeugung, so, als hätte er Merkels Rede mitverfasst. Hat er natürlich nicht. Aber Lammert, ein Meister rhetorisch geschliffener Extravaganzen, trifft damit wieder einmal die Stimmung der Bundestagsabgeordneten. Hierzulande könnten auch ausländische Gäste ihre Meinung sagen, fährt er fort. "Wir aber auch."

Großer Beifall des ganzen Hauses. Deshalb, so der CDU-Politiker weiter, werde man es sich "gerade auch im Interesse unserer türkischen Mitbürger, die zugleich deutsche Staatsbürger sind, nicht nehmen lassen, darauf hinzuweisen, wohin es die Türkei absehbar führen wird, wenn die Pläne, für die türkische Politiker in Deutschland werben, verwirklicht werden können: nämlich in die Entwicklung zu einem zunehmend autokratischen Staat".

Damit ist praktisch alles gesagt zum Thema Türkei. Aber eben nicht von allen. Auch Merkel kommt natürlich darauf zu sprechen. Allerdings viel verschwiemelter als Lammert, das ist ihr Naturell. Die unsäglichen Nazi-Vergleiche, wie sie von türkischer Seite zu hören waren, seien "überaus traurig" und gingen "auf gar keinen Fall", so die Kanzlerin. Aber so "unzumutbar" manches auch sei, Deutschlands "geopolitisches Interesse" könne es nicht sein, "dass sich die Türkei weiter von uns entfernt".

Die Abgeordnete Sevim Dagdelen, eine radikale Vertreterin der Linken, wirft der Kanzlerin deshalb später vor, sich durch den "Merkel-Erdogan-Pakt" - gemeint ist das EU-Flüchtlingsabkommen mit der Türkei - "erpressbar" gemacht zu haben. Dagdelen ist praktisch die einzige Rednerin, die sich für ein Verbot von Auftritten türkischer Politiker in Deutschland ausspricht. Auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch, der gleich nach Merkel redet, begrüßt demonstrativ die Haltung Lammerts. Sein SPD-Amtskollege Thomas Oppermann stellt klar, dass ein Redeverbot für türkische Politiker dem Diktator am Bosporus nur in die Hände spielen würde. Erdogan suche derzeit ein Feindbild. "Dabei sollten wir ihm nicht helfen."

Grünen-Chef Cem Özdemir indes nimmt Lammert buchstäblich beim Wort und fordert die in Deutschland lebenden Türken vom Rednerpult des Bundestages glasklar auf, beim Verfassungsreferendum zur Errichtung eines auf Erdogan zugeschnittenen Präsidialsystems mit "Nein" zu stimmen. "Unsere Demokratie ist nicht dazu da, in der Türkei eine Diktatur zu errichten." Dafür bekommt der türkischstämmige Politiker besonders starken Applaus. Auch Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) gießt noch etwas Öl ins Feuer. "Ein Land, dessen Repräsentanten sich so verhalten wie Erdogan, braucht sich nicht wundern, wenn der Tourismus zurückgeht. In einem solchen Land wollte ich auch nicht Urlaub machen", sagt Kauder.

Die Bundeskanzlerin ist da schon fast auf dem Sprung. Der Flieger zum EU-Krisentreffen in Brüssel wartet.

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