Ein Symbol für die Freiheit der Franzosen

Paris · Der brutale Überfall auf das Magazin „Charlie Hebdo“ macht viele Menschen noch immer sprachlos. Die Attacke im Januar war Auftakt zu einem Jahr des Terrors in Frankreich – und ein Ende ist auch heute nicht in Sicht.

Schmales Gesicht, dunkle Locken, silberner Stecker im rechten Nasenloch: Corinne Rey, Künstlername Coco, ist die Erste, die am 7. Januar 2015 auf die Attentäter von "Charlie Hebdo " trifft. Die Brüder Chérif und Said Kouachi erkennen die 33-Jährige, die als Karikaturistin für die Satirezeitung arbeitet, vor der Eingangstür und lassen sich von ihr in den zweiten Stock der Nummer 10 in der Rue Nicolas Appert bringen, wo die Redaktion gerade tagt. "Als ich den Türcode eingebe, spüre ich die Kalaschnikow in meinem Rücken", erinnert sich Coco. Die Mutter einer Tochter flüchtet sich in einen Raum am Ende der Redaktion und überlebt das Massaker - versteckt unter einem Schreibtisch. Zwölf Menschen töten die Brüder, darunter Chefredakteur Stéphane Charbonnier.

Der Angriff gilt dem, was die Journalisten verkörpern: eine Meinungsfreiheit, die auch vor der Religion nicht halt macht. Mehrmals hat "Charlie Hebdo " Karikaturen des Propheten Mohammed veröffentlicht. "Wir haben den Propheten gerächt", rufen die Al-Qaida-Terroristen, bevor sie in einem schwarzen Auto fliehen. Zwei Tage nach dem Anschlag tötet eine Polizei-Eliteeinheit das Brüderpaar, das sich in einer Druckerei im Norden von Paris verschanzt hat. Zeitgleich stürmen Polizisten den jüdischen Supermarkt an der Porte de Vincennes, in dem ein Terror-Komplize, Amedy Coulibaly, Geiseln nahm. Vier von ihnen erschießt der Angreifer, der sich zum Islamischen Staat bekennt, bevor er selbst getötet wird.

Schon am Abend des 7. Januar wird der Satz "Ich bin Charlie" zum Slogan der Solidaritätsbewegung mit den Opfern, die Millionen Menschen auf die Straße bringt. Die Überlebenden des Angriffs veröffentlichen nur eine Woche später eine neue Ausgabe, die wochenlang nachgedruckt werden muss und mit gut sieben Millionen Exemplaren einen Rekord aufstellt. "Wir sind nicht mehr das kleine Käseblatt. Wir wissen, dass Charlie jetzt weltweit gelesen wird", sagt Coco in einem Interview mit der "Welt". Das einst bei 30 000 Exemplaren darbende Magazin erlebt nach dem Anschlag ein Wirtschaftswunder. Die Zahl der Abonnenten steigt auf über 200 000, bis heute sind es gut 180 000 Abos plus 100 000 an den Kiosken verkaufte Hefte.

"Charlie Hebdo " rückt wenige Monate dennoch aus dem Blick vieler Franzosen. Anders der Terror: Im April fasst die Polizei in Villejuif südlich von Paris einen 24-Jährigen mit Kontakten nach Syrien vor einem Anschlag auf eine Kirche. Zwei Monate später enthauptet ein mutmaßlicher Islamist seinen Chef, ein Anschlag auf ein Werk für Industriegase wird aber verhindert. Im August überwältigen Fahrgäste im Thalys-Schnellzug nach Paris einen 25 Jahre alten Islamisten, bevor er mit einem Schnellfeuergewehr um sich schießen kann. Parallel dazu gewinnt die islamfeindliche Front National (FN) von Marine Le Pen , die keine Einwanderer mehr ins Land lassen will, massiv Wähler hinzu. Heftig diskutiert wird auch über ein im Sommer verabschiedetes Gesetz, das den Geheimdiensten nach den Anschlägen vom Januar umfassende Befugnisse einräumt. Doch auch die aufgerüsteten Sicherheitsbehörden können im Herbst den tödlichsten Anschlag in der Geschichte Frankreichs nicht verhindern: IS-Kommandos töten am 13. November bei einer Reihe koordinierter Angriffe 130 Menschen.

"Charlie Hebdo " titelt trotzig mit einer Botschaft an die Terroristen , dass sie die französische Lebensart auch mit Kalaschnikows nicht unterkriegen werden. "Sie haben die Waffen, wir scheißen drauf, wir haben den Champagner " steht unter der Zeichnung eines jungen Franzosen, aus dessen Wunden Champagner quillt. Doch auch Coco weiß, dass die Gewalt im November eine neue Dimension erreicht hat. "Dieses Mal ist nicht die freie Meinungsäußerung, sondern die Freiheit an sich angegriffen worden."

Entsprechend fällt auch die Reaktion der Regierung drastischer aus: Seit 14. November gilt in Frankreich der Ausnahmezustand. Die Nervosität der Franzosen ist bis heute spürbar. "Wir sind noch nicht fertig mit dem Terrorismus ", warnt Präsident François Hollande in seiner Neujahrsansprache. Am Sonntag werden sich trotzdem zahlreiche Menschen zum Gedenken am Platz der Republik versammeln. Ein Gedenken, das bei den Überlebenden die Wunden wieder aufreißt. "Aber es könnte der Moment sein, wo man sich entscheidet, wieder ganz zu leben", sagt Zeichnerin Coco.

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